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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

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In der Schutzhütte.
Novellenkranz von Johannes Proelß.
(Fortsetzung.)
2. Wanderzauber.

Ich bin zwar der Jüngste in diesem Kreise, aber wenn ich an die Zeit zurückdenke, an deren Erinnerungen ich jetzt rühre, komme ich mir schon recht alt vor. Damals verfolgte ich noch nicht mit mühsamen Berechnungen die Bahnen der Planeten und Kometen und noch weniger erschienen mir die Bahnen des Menschenlebens von Gesetzen und Regeln abhängig, die sich berechnen lassen. Und von jener Zeit her erscheint mir als Hauptreiz des Reisens und Wanderns, daß seine Wechselfälle aller Vorausberechnung spotten und man an jedem Kreuzweg dem Glück in einer anderen freundlichen Gestalt begegnen kann. Meine schönsten Reiseerinnerungen stammen denn auch aus der Zeit, da ich mit meinen Kommilitonen von Jena aus die Höhen und Thäler des Thüringerwaldes wandernd durchmaß, ohne viel Geld in der Tasche, aber das ganze Herz voll Lebensfrische und Daseinsfreude, das Geibelsche „O Wandern, o Wandern, du freie Burschenlust!“ zum Panier.

Die verehrten Damen unserer Tafelrunde werden sich schwerlich einen Begriff machen können von der Stimmung, welche den Ton angiebt, wenn Studenten wandern. „Studio auf einer Reis’, juchheidi, juchheida!“ heißt’s im Lied und die holde Mahnung eines anderen Verses:

„Laßt uns die Becher bekränzen,
Laßt bei Gesängen und Tänzen
Uns durch die Pilgerwelt geh’n –“

wird nie so wörtlich befolgt, als wenn der Bruder Studio das Ränzel auf den Rücken nimmt und sich auf die Wanderschaft begiebt, planlos, ziellos, hinaus ins Freie, in die Welt, wo sie schön ist. Und mit seinen Augen betrachtet, ist die Welt fast überall schön.

In unseren großen Städten, wo neben anderen wichtigen Centralstellen des Lebens auch Universitäten sind, kommt diese Stimmung kaum mehr recht auf; aber in jenen kleinen Orten, die nur Universitäten sind, um welche ewiges Philistervolk ehrfurchtsvoll herum wohnt, hat die alte deutsche Burschenfreiheit noch mächtige Bollwerke und behauptet sich siegreich vor der alles nivellirenden Großstadtkultur. Eine der Hochburgen der alten echten Studentenpoesie ist Jena an der Saale und von einem Pfingstausflug von hier in den Thüringerwald, den ich mit zwei gleichgestimmten Kameraden im ersten Semester unternahm, will ich nunmehr erzählen. Wohl habe ich seitdem Schöneres gesehen als die idyllischen Waldthäler Thüringens und Bedeutenderes erlebt als an jenen Tagen, aber keine spätere Reiseerinnerung steht in gleichem Maße von Poesie verklärt vor meiner Seele wie diese.

In Thüringen, wo von altersher immer Deutsche gewohnt haben, ohne daß fremder Einfluß von außen die heimische Sitte hätte verändern können, findet sich im Volksbrauch noch so manches aus altersgrauer Vorzeit erhalten. Wie die thüringischen Mädchen noch heute in der Nacht zum ersten Mai „in den Maithau gehen“, das heißt mit ihren Freundinnen unter Scherzen und Liedersang in die nächste Umgebung des Orts pilgern, wie es die Vorfahren gethan, die mit dem wundertätigen Thau dieser Nacht gläubig Schläfe und Stirn sich netzten, um damit ihr Gesicht vor den Spuren des Alters zu feien, so spielt zu Pfingsten die „Maie“, das ist mit ihrem jungen hellgrünen Blätterschmuck die Birke, eine von Alters her geheiligte Rolle. Wie zur Weihnacht die dunkle Tanne, wird dieser lustige Frühlingsbaum dann zum Schmuck der Häuser und Kirchen verwandt. Und in jedem Dorf wird auf dem großen Platz, wo die Linde steht oder wenigstens einstmals stand, ein Tanzplatz abgesteckt, oft auch mit Brettern ausgeschlagen und ringsherum im Geviert werden wiederum grüne Maien aufgestellt.

Auch uns hatten flatternde Maienbäume auf der Fahrt von Jena nach Rudolstadt lustig umrauscht, als wir das blühende Saalthal am ersten Pfingsttag morgens in einem offenen Beiwagen der Post durchfuhren. So wollte es die alte Tradition unserer Verbindung, der Eisenbahn zum Spott, die uns weit schneller, aber auch ohne alle Romantik aus Ziel gebracht haben würde. Und hatte schon bei dieser Fahrt eine Stimmung sich unser bemächtigt, die dem lustigen Grün der Birken an Frische nichts nachgab, so wollte der Jubel kein Ende nehmen, als wir nach beendigtem Mahl im „Adler“ zu Rudolstadt in größerer Gesellschaft von anderen Jenenser Studenten, die sich dort zusammengefunden hatten, in langem Zuge, zu zwei oder drei Arm in Arm, singend und mit den Stöcken schwenkend „zum Städtle hinaus“ zogen auf der Straße nach Blankenburg, von wo bekanntlich der Weg ins wildromantische Schwarzathal abbiegt. Schwarzburg am Ende desselben war das Endziel dieses ersten Reisetags.

Wir waren noch nicht lange gegangen, das unverwüstliche Wanderlied „Der Mai ist gekommen“ war eben zum dritten Mal mit zum Theil schon recht heiseren Kehlen zu Ende gesungen worden, da zeigte sich ein neues Dorf vor uns auf dem Wege und dieser Anblick weckte in der Mehrzahl der Genossen das gewohnheitsmäßige Verlangen nach einem solennen Kaffeeskat. Das Hin und Her der Vorschläge führte zu dem Entschluß, in dem Wirthshaus des Dorfs, falls es nur einen Garten zum Sitzen im Freien habe, die erste Einkehr zu halten und einen obligaten Skat dabei ins Werk zu setzen. An Karten dazu konnte es nicht fehlen, denn vier bemooste Häupter unserer bunt zusammengewürfelten Reisegesellschaft hatten diesen Einwand sofort damit niedergeschlagen, daß sie aus ihrer Brusttasche jeder ein Spiel Karten triumphirend hervorzogen.

Für unsere Damen, denen die zwingende Macht des Skatspiels über alle, die es spielen können, vielleicht noch unbekannt ist, muß ich hier hervorheben, daß Jena nur wenige Eisenbahnstunden von Altenburg, der Wiege dieses sinnreichen Kartenspiels, liegt und die Jenaer Studentenschaft schon frühzeitig ihren Beruf erkannt hat, demselben ein anhaltendes Studium und die ausdauerndste Pflege zuzuwenden. Sie werden daher meine Zerknirschtheit nachempfinden können, daß ich es damals bis über die Anfangsgründe des Skats noch nicht hinausgebracht hatte, während meine zwei eigentlichen Reisegefährten leidenschaftliche Spieler waren, die, nachdem sie mich meiner Unfähigkeit wegen weidlich verspottet hatten, ihrer Befriedigung lauten Ausdruck gaben, in so angenehmem Kreise den „dritten Mann“ für den ersten „Pfingstreiseskat“ finden zu können.

Das Wirthshaus im Dorf hatte richtig einen geräumigen Garten und bald saß die bis dahin freigeeinte Gesellschaft in Gruppen von drei und vier Personen abgesondert beim Spiel. Während der Wirth vergnügten Angesichts die ersten Gläser heranschleppte, schmetterte es aus den Holztischen bereits von grünen Wenzeln, Schellenassen und Eichelzehnern. Mir blieb nichts übrig, als mich, wenn nicht „weinend“, so doch beschämt „aus diesem Bund zu stehlen“ und mein Heil auf eigene Weise in einem „Solo“ zu suchen. Und ich hatte nicht lange zu suchen. Schon beim Einzug in die grüne Kastanienhalle des Wirthsgartens waren uns Fanfaren einer nahen Tanzmusik entgegen geklungen, und diesen lockenden Tönen nachgehend, gelangte ich bald auf den freien Dorfplatz, unter dessen breitem Lindendach aus blanken Brettern ein Tanzboden hergerichtet war, auf welchem sich sonntäglich geputzte Burschen mit ihren Mädchen im Takte drehten. In nächster Nähe des von Birken umrahmten Tanzplatzes waren, ebenfalls in primitiver Weise, aus Brettern und Pfosten Tische aufgeschlagen, an denen die älteren Leute saßen, die Frauen strickend, die Männer Pfeife rauchend, paarweis ein gemeinsames Bierglas vor sich, das offenbar nur in langen Pausen von dem blondzopfigen Töchterlein des Lindenwirths gefüllt zu werden brauchte, dessen Haus und Gehöft an diesen Platz grenzte. Wenigstens behielt das schmucke Kind genug Zeit übrig, um sich der Tanzlust hinzugeben, die ihm aus den blauen Augen über den gerötheten Wangen schimmernd leuchtete. Es war kein Wunder, daß eine merkliche Trübung dieses freudigen Ausdrucks eintrat, als ich durch mein Begehr nach einem Glase Bier sie nöthigte, sich aus den Armen ihres Tänzers zu lösen, nachdem die Musik eben erst ein neues Stück begonnen. Ihr Tänzer war nicht eben ein bevorzugter Vertreter seines Geschlechts und der Unmuth auf der Stirn der flinken Hebe, der noch nicht ganz verflogen war,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 543. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_543.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)