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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

sondern um einen gründlichen Regen, der nur von gewitterartigen Erscheinungen begleitet ist. Ja, wenn der Wind umschlüge! Aber dazu ist vorderhand keine Aussicht. Morgen früh vielleicht?“

„Da heißt es sich in Geduld fassen“ sagte mit einem Seufzer die ältere Dame, indem sie sich in ihr Shawltuch wickelte und sich wieder auf ihren früheren Platz zurückzog.

„Aber wie soll man sich denn in dieser öden Hütte die Zeit vertreiben!“ rief verzweifelt ihr Gatte, der sein leichtes Sommerröckchen mit einer Lodenjoppe vertauschte, die er seiner umfangreichen Reisetasche entnahm. „Zu Bett kann man doch zu so früher Stunde noch nicht gehen, zumal uns hier nicht grade Stahlfedermatratzen erwarten dürften und der Sturm einem ohnehin das Einschlafen nicht erleichtern wird.“

Der Astronom schlug den Herrschaften, deren Sprechweise verrieth, daß sie im norddeutschen Plattland ihre Heimath hatten, ein Spielchen vor. „Sie können doch gewiß Skat?“ Doch diese verneinten es.

„Nicht möglich,“ rief der lustige Sterngucker. „Nun, dann ein anderes Spiel! Bärbeli,“ rief er gleichzeitig, „Ihr habt doch Spielkarten?“

„Wir hatten wohl, aber gestern sind sie abhanden gekommen. Es muß sie eins haben mitgehen lassen!“

„Nun, das muß ich sagen!“ rief jetzt auch im Tone der Verzweiflung der joviale Verehrer des Skatspiels. „Eingeregnet sein, das ist schon schlimm; aber eingeregnet sein ohne Karten, das übersteigt das Maß des Erträglichen! Bringen Sie mir wenigstens noch eine Flasche Bier!“

Das jüngere Ehepaar hatte sich inzwischen seinen vorher nur unterbrochenen Beschäftigungen hingegeben. Die Dame ordnete die mitgebrachten Alpenpflanzen in ihr Herbarium ein; der Herr führte in seinem Skizzenbuch eine angefangene Zeichnung aus. Er that dies mit so leichtem künstlerischen Strich, daß sich der Weißbart mit der goldenen Brille, welcher um Erlaubniß gebeten hatte, ihm zuzusehen, nicht der Frage enthalten konnte, ob er Maler von Beruf sei, was jener ohne viel Aufhebens bejahte. Der Engländer hatte sich wieder an sein Fenster gestellt und lauschte seinem Freunde, dem Sturm, der mit schrillem Geheul das Gebäude umtobte. Es war dies jetzt allen vernehmlich, da auch die übrigen wieder in die frühere Schweigsamkeit verfallen waren. Der Astronom rauchte nachdenklich seine Cigarre, der norddeutsche Herr hatte sich auch eine solche, offenbar eine echte, angezündet und sah nun mit seiner getreuen Ehehälfte der Gattin des Malers zu, welche mit bewunderungswürdigem Geschick ihre Pflanzen auf den Löschpapierblättern des Herbariums so zurecht legte, daß die einzelnen Blüthen und Blätter in ihrer Eigenart und doch auch wieder in malerischer Gesammtwirkung zur Geltung kamen. Das Bärbeli unterbrach die Stille; es brachte das gewünschte Bier und den Kaffee für unseren Freund. Derselbe kostete mit prüfender Kennermiene und lobte das Getränk.

„Sag’ der Mutter, daß sie ihn vorzüglich gekocht habe. Aber es ist zu viel. Darf ich den Damen eine Tasse anbieten? Echter Mokka. Ich habe ihn selbst mitgebracht … Sie lassen sich die kleine Aufmerksamkeit gefallen? Das ist schön! Geh, Bärbeli, dort im Schrank stehn ja Tassen.“

Das Mädchen brachte das Nöthige schnell herbei.

„Und nun, Meidli, da wir so gemüthlich beisammen sitzen, zum Theil ohne zu wissen, was wir anfangen sollen, wie wär’s, wenn Du etwas für unsere Unterhaltung thätest? Da, der Herr Maler sitzt grade so über sein Skizzenbuch gebeugt wie Ihr im Winter über der Stickerei, wenn Ihr Euch Geschichten erzählt. Und auch wir anderen befleißen uns einer andachtsvollen Ruhe. So sind wir Städter nun einmal, wenn wir, gänzlich unvorgestellt und unvermuthet, auf Reisen Tisch- und Zeitgenossen werden. Aber von Dir werden wir uns wohl alle gern eine Euerer heimischen Geschichten und Sagen erzählen lassen. Wie war’s mit dem ‚Bötzler‘ und mit dem ‚blauen Schnee‘? Fang’ einmal an!“

Das Mädchen zupfte sich verlegen an den Schürzenzipfeln. „Gehen’s, was machen der Herr für Gspaß! Für solche gescheite Stadtleut wie Sie sind das keine Geschichten und Sie würden mich nur auslachen, wenn ich Ihnen eins erzählen wollt’.“

Doch die Touristen, der Engländer nicht ausgeschlossen, protestirten sehr lebhaft. „Nein, nein, Bärbeli! Erzähl nur frisch drauf los!“

„Ei, wenn S’ denn gar so d’rauf aus sind; ich weiß schon, daß drinnen in den großen Städten es grundstudirte Leut giebt, die eine ganz närrische Freud’ an unsern Liedern und Geschichten haben; da will ich nachher die vom Bötzler Ihnen sagen, aber vorher muß der Herr selber etwas erzählen; der weiß gewiß schönere Geschichten wie so ein dummes Meidli in den Bergen.“

„Seht einmal, was für ein durchtriebener Schalk dem Mädel im Nacken sitzt!“ rief dagegen abwehrend der gesprächige Alte.

„Ja, aber recht hat das Bärbeli, Herr Professor,“ rief jetzt der lustige Wetterprophet mit dem düstern Kassandrablick von vorhin, indem er sich erhob. „Ich habe doch die Ehre, in Ihnen Herrn Professor Hermann Schröder zu begrüßen. Mein Name ist Helbig, Observator der Sternwarte in –, doch das thut nichts zur Sache; ich habe als Student bei Ihnen Kolleg gehört und jetzt erst erkannte ich Sie an der Stimme. Damals war Ihr Bart noch nicht weiß, auch trugen Sie keine Brille.“

„Ja, ja, man wird alt. Ich erinnere mich wohl. Vor zehn Jahren etwa Sie hörten bei mir das Lessingkolleg und englische Litteraturgeschichte.“

„Ganz recht, Herr Professor!“

„Freut mich sehr, Sie wiederzusehen, und bedaure nur, daß der Anlaß dieser gräuliche Regen ist.“

„Für den wir uns jetzt schadlos halten wollen durch eine animirte Unterhaltung.“

„Recht so! Das wollen wir! Die Herrschaften mögen unsere plötzliche Inkognitoenthüllung freundlichst als Vorstellung betrachten,“ fuhr mit einer höflichen Verbeugung gegen die übrigen der Professor fort.

„Bitte gleichfalls,“ schloß sich Herr Helbig an.

„Maler Breitinger, meine Frau“, „August Kurz, Fabrikant, meine Frau“, „John Whitfield“ – stellten sich auch die übrigen vor.

„Und nun, Herr Professor, Ihre Geschichte?“

„Fällt mir nicht ein, meine Ferien und diese Schweizerreise durch ein Kollegium zu profaniren. Ich habe genug im Hörsaal vorzutragen“.

„Aber, Herr Professor, Sie würden gewiß uns sämmtlich erfreuen!“

„Bleiben Sie mir mit dem Professortitel vom Leibe. Bin ich deshalb auf diese Höhen gestiegen? ‚Auf den Bergen ist Freiheit‘, singt der Dichter und ‚hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein‘, ist mein Wanderspruch!“

„Den ich mir gefallen lasse,“ warf der Maler dazwischen „Aber Sie sollen ja auch gar nicht doziren. Sie sollen nur das schönste und freieste Unterhaltungsmittel hier wieder zu Ehren bringen, das der freien Erzählung. Wie die arabischen Kaufleute auf ihren Reifen durch die Wüste des Nachts in ihren Zelten sich die Zeit vor dem Einschlafen durch Stegreif-Erzählen von Märchen und Geschichten vertreiben und der Berufenste dabei zuerst das Wort erhält …“

„Ja und wie Sie uns in Ihrem ‚Kolleg‘ so anziehend von Chaucers Canterburygeschichten erzählt haben, deren Einkleidung uns eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft von Pilgern vorführt, die auf der Reise zum Grabmal des heiligen Becket von Canterbury begriffen sind und sich auf den Vorschlag des lustigen Wirths vom Tabard-Inn den mühsamen Weg durch Geschichten erzählen kürzen, so wollen auch wir’s machen, um die Langeweile zu bannen und das schlechte Wetter zu vergessen.“

„Der Vorschlag läßt sich hören. Wenn Sie mich zum Alterspräsidenten des Symposions ernennen, so erhebe ich den Vorschlag zum Antrag. Wer ist dagegen?“

Die meisten erklärten zwar, sie hätten keine Uebung und würden sich blamiren, aber die Idee wurde von allen heiter willkommen geheißen. „Und nun zur zweiten Frage: welcher Art sollen die Geschichten sein? Herr Breitinger, Sie melden sich zum Wort, bitte!“

„Ich denke, da uns die Lust am Reisen, am Wandern hier zusammengeführt hat, so sollten es Reiseabenteuer sein, und da uns das Unwetter draußen heute um den erhofften Reisegenuß gebracht hat, möge jeder, sich und uns zum Trost, seine schönste Reiseerinnerung zum besten geben!“

Lebhafte Zustimmung war von allen Seiten die Antwort.

„Angenommen also,“ resümirte der Professor. „Jeder erzähle seine schönste Reiseerinnerung. Aber wer soll anfangen?“

„Ich denke, die studirten Herren machen den Anfang,“ war die Meinung der Damen.

„Ladies first,“ sagte verbindlich lächelnd der Engländer.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 527. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_527.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)