Seite:Die Gartenlaube (1888) 515.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Der Mann hatte mich. Ich nahm 14 Fahrscheine erster Klasse dritter Zone für 84 Mark. Sie sahen eigenthümlich aus. Auf der Vorderseite stand nämlich nur:

 
Von
Leipzig, Thüringer Bahnhof
I. Klasse I.
Dritte Zone
6 Mark.
Umwenden! 0

Auf der Rückseite stand in kleinem Druck:

Dieser Fahrschein berechtigt nur zur einmaligen Fahrt nach jeder beliebigen Eisenbahnstation des Deutschen Reiches. Er ist beim Betreten des Bahnsteigs der Abgangsstation vorzuzeigen und beim Verlassen des Bahnsteigs der Endstation abzugeben.
Er hat nur Gültigkeit für drei Kalendertage.
Der Benutzer einer höheren Klasse als der, zu welcher dieser Fahrschein berechtigt, wird mit einer sofort zu entrichtenden Ordnungsstrafe von 10 Mark belegt und hat außerdem strafrechtliche Verfolgung zu gewärtigen.

Die nächste meiner Sorgen war die Aufgabe des Gepäcks. Das war in den alten Tagen des Eisenbahnbetriebes, die mit 1893 zu Ende gegangen waren, in der That ein sorgenreiches Geschäft für einen Familienvater gewesen! Denn mit den 25 Kilo „Freigepäck“, welche die alte Betriebsordnung dem norddeutschen Eisenbahnreisenden gewährte – Süddeutschland kannte überhaupt kein „Freigepäck“ außer dem kleinen Handgepäck – war bei längeren Sommerreisen übel auszukommen, namentlich für Damen. Mit trübem Blick sah man damals die unbestechliche scharfe Nadelzunge der Eisenbahnwage höher und höher schnellen, bis alle Gepäckstücke der Familie aufgeladen waren – und dann kam die bittere Eröffnung des Gepäckbeamten, daß irgend ein fabelhafter Betrag, zwanzig, dreißig Mark und darüber als „Ueberfracht“ zu zahlen sei.

Wir hatten diesmal, im Vertrauen auf die Weitherzigkeit der Eisenbahnreform auch im Gepäcktarif, eine schwere Menge Gepäck eingeladen, fünf Koffer zu je 50 Kilo. Ich war sehr neugierig auf den Kostenbetrag.

An Stelle der vier bis fünf Leute, welche ehedem das Verwiegungs- und Einschreibegeschäft des Gepäcks besorgt hatten, war diesmal ein einziger Beamter zur Stelle, welcher meine von den Trägern ihm vorgelegten fünf Koffer und Körbe abwog, sich die Fahrscheine vorzeigen ließ und fragte, wohin das Gepäck eingeschrieben werden solle.

„Nach Basel,“ sagte ich.

„Gut.“

Im Nu hatte er auf zehn Scheinen das einzige Wort Basel ausgefüllt, klebte fünf der ausgefüllten Scheine auf die Koffer und Körbe und gab mir die andern fünf. Diese Scheine sahen so aus:

 
Nr. 3840(–3844).
Von Leipzig, Thüringer Bahnhof
 
nach . . . . Basel . . . .
1 Mark (Blitzzug).
 

„Fünf Mark für die fünf Stück,“ sagte er.

„Fünf Mark?“ fragte ich erstaunt über die Billigkeit der Forderung.

„Ja, fünf Mark,“ wiederholte er. "Wenn sie den gewöhnlichen Zug benutzt hätten, würden Sie nur die Hälfte zu bezahlen gehabt haben. Nach Stationen der ersten und zweiten Zone gar nur 25 Pfennig für 50 Kilo und das Doppelte im Blitzzug.“

„Aber das ist so fabelhaft billig. Kommt denn da die Bahn auf ihre Kosten?“

„Allerdings,“ versetzte er. „Denn früher waren unsere Gepäckwagen nur zu drei Prozent gefüllt. Der Fahrgast schleppte sich – namentlich in der menschenunwürdigen, nun für immer abgeschafften vierten Klasse, aber auch in den übrigen - mit einer erdrückenden Traglast Handgepäck oder begnügte sich mit einem lächerlich kleinen Vorrath von Wäsche, Kleidung, von Reisegepäck überhaupt, nur um die unerschwinglichen Passagiergepäckpreise zu sparen. Jetzt zahlt ein Koffer von 50 Kilo von Eydtkuhnen bis Basel nicht mehr als 50 Pfennig, bis 50 Kilometer Entfernung nur die Hälfte. Und die Folge ist, daß unsere Güterwagen gefüllt sind und einen schönen Ertrag geben.“

„Freilich werden Sie auch die Beamtenkräfte stark haben vermehren müssen, um diesen gesteigerten Güterverkehr zu bewältigen?“ wandte ich ein.

„Ganz im Gegentheil!“ rief der Beamte. „Früher standen hier drei bis vier Beamte, wie Sie sich erinnern werden; zwei an der Wage, zwei im Schreibzimmer, und die Verwiegung und Beklebung, die Aufsuchung des richtigen Gepäckscheins mit dem im voraus vorgedruckten Bestimmungsort, unter Tausenden solcher Scheine, die Eintragung des Gewichtes, die schwierige Berechnung der Fracht oder gar Ueberfracht nahm für manchen Passagier fünf Minuten in Anspruch. Das ist jetzt einfach unmöglich. Ich besorge allein, wie Sie sehen, die ganze Arbeit, und zwar bequem; denn ich habe in jeden Schein nur den Bestimmungsort einzuschreiben. Allein an Beamtengehältern spart die Bahn infolge dieser Vereinfachung und Verbilligung des Passagiergepäcks Millionen jährlich.“

„Hier sind fünf Mark, danke verbindlichst.“

Wir traten auf den Bahnsteig (Perron). Der Zutritt zu demselben war nur mit Fahrschein erlaubt und unsere Fahrscheine wurden vorgezeigt und „eingeknipst“, sowie wir den Bahnsteig betraten. Kein Schaffner stand vor dem langen Zug, welcher das einsteigende Publikum bevormundete und unterwegs den Zug begleitete. Vielmehr sorgten große Aufschriften an den Wagen dafür, daß der Reisende sich nicht verstieg. Ueberall stand in riesigen Buchstaben: „Nach Frankfurt über Eisenach-Bebra-Elm“, auch an der Lokomotive.

Die Farben des Anstrichs der drei Wagenklassen stimmten genau überein mit der Farbe der Fahrscheine zu den drei Klassen: grün, braun und roth.

Niemand konnte sich versteigen. Niemand bedurfte unterwegs eines bevormundenden oder kontrollirenden Schaffners. Die Tausende von Schaffnern, welche in der alten Zeit während der Fahrt in steter Lebensgefahr geschwebt hatten, waren abgeschafft, und zwar theils pensionirt, theils minder unnützen und gefahrvollen Beschäftigungen des Eisenbahndienstes überwiesen. Nur ein einziger Kontrollbeamter tauchte plötzlich einmal unterwegs auf, welcher die Fahrscheine einsah und dann bei der nächsten Station wieder verschwand.

Wir hielten nur viermal auf der Fahrt bis Frankfurt und legten den Weg in sechs Stunden zurück. Es war Mittag geworden. Wir hatten hier anderthalb Stunden Aufenthalt, ehe der Blitzzug nach Basel abging, und begaben uns ist den Speisesaal des Centralbahnhofes. Der Speisesaal befindet sich im Bereiche des Bahnsteiges und ist abgesperrt nach außen, so daß nur mit Fahrscheinen versehene Gäste dort verkehren und eine nochmalige Fahrscheinvorzeigung beim Besteigen des Basler Zuges nicht nöthig ist.

Dann nimmt uns dieser Zug auf, und in fünf Stunden zieht die Bergstraße bis Friedrichsfeld, die Rheinebene bis Karlsruhe, der Schwarzwald zur Linken, später der Wasgenwald und der Kaiserstuhl zur Rechten an uns vorüber. Nachmittags sechs Uhr laufen wir in Basel ein, nachdem wir Leipzig vormittags gegen sechs Uhr verlassen haben. Und diese Fahrt erster Klasse mit Gepäck kostet auf die Person nicht ganz 13 Mark. So reist man Mitte Juli 1893. – Wirklich? – Hans Blum.     


Blätter und Blüthen.

Kaiser Wilhelm II. auf dem Exerzierfelde. (Mit Illustration S. 513.) Ehe der letzte schwere Schicksalsschlag das deutsche Volk traf und ihm nach einer kurzen Spanne Zeit den zweiten Kaiser entriß, konnte man alltäglich um die zwölfte Mittagsstunde an der Ecke der „Linden“ und der Friedrichstraße in Berlin dichte Menschenansammlungen bemerken, welche gespannt nach einer Richtung die endlose Straße hinunterblickten. Hörte man dann in der Ferne den vollen Klang der Militärmusik und sah die blitzenden Truppenzüge sich nähern, so fuhr es wie ein elektrischer Funken durch die hier angesammelte, nach vielen Hunderten, ja Tausenden zählende Menge; alles schob und drängte sich nach vorwärts, Hüte und Taschentücher wurden geschwenkt, brausend ertönten Hoch- und Hurrahrufe, und freundlich grüßend dankte für diese Huldigungen der an der Spitze eines Infanterieregimentes einherreitende Kronprinz Wilhelm.

Anstrengungsreiche Stunden lagen dann bereits hinter ihm, denn seitdem er an seinem diesjährigen Geburtstage, dem 27. Januar, zum Generalmajor und Kommandeur der zweiten Gardeinfanterie-Brigade ernannt worden war, verstrich fast kein Tag, an welchem er nicht einen Theil desselben dem ihm unterstellten Truppenkörper gewidmet hätte, sei es, daß er dem Exerzieren auf einem Kasernenhofe beiwohnte, daß er unvermuthet bei den Turnübungen erschien oder die einzelnen Offiziercorps zu ausführlichen dienstlichen Besprechungen und Instruktionen um sich versammelte, wobei der Thronfolger, wenn es nöthig war, „kein Blatt vor den Mund nahm“, wovon das Rügen verschiedentlicher Modeausschreitungen ein offenkundiges Zeugniß abgelegt hat.

Ganz besonderen Eifer aber widmete der Prinz den Inspizierungen seiner Brigade auf dem Tempelhofer Felde. In früher Morgenstunde, wenn Berlin allmählich erst erwachte, ritt er, entweder mit dem zur Besichtigung bestimmten Regimente oder auch allein, nur von einem Adjutanten begleitet, zu der weiten historischen Ebene jenseit des Kreuzberges. Mit sichtlicher Hingebung, mit von hohen Militärs begeistert gerühmtem sichersten Verständniß lag er dort seinen verantwortungsvollen Pflichten als Brigadekommandeur ob. Es war ein schönes, von einer sich an der Tempelhofer Chaussee hinziehenden langen Zuschauerkette oft genug bewundertes Bild, den ritterlichen Hohenzollernsohn auf seinem stattlichen Goldfuchs, gefolgt von einer glänzenden, aus Offizieren aller Waffengattungen gebildeten Suite, dahinsprengen zu sehen, hier selbst das Kommando übernehmend, da den Parademarsch grüßend, dort sich an die Spitze der stürmend vorgehenden Kolonnen setzend, dann gleich darauf sich zu einem andern Bataillon verfügend und, nachdem das Signal ertönt, an der Seite reitend, genau den Schritt der einzelnen Glieder verfolgend, um nachher, wenn sich die Stabsoffiziere um ihn versammelt, detaillirte Kritik zu üben.

Berlin ist bekanntlich eine durch und durch militärische Stadt, und der Berliner hat ein feines, sich von Jugend an äußerndes Verständniß

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 515. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_515.jpg&oldid=- (Version vom 11.6.2023)