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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

des Schlafes versichert, er sei ein erst seit wenigen Tagen in Pforzheim wohnender geborener Norddeutscher. Nach dem Erwachen ins Gespräch gezogen, bediente er sich, der bis dahin sich nur in Pforzheimer Mundart hatte ausdrücken können, völlig dialektfreier Rede, was sich bei ihm komisch genug ausnahm. Das Nichtsehen anwesender Personen oder das vermeintliche Erblicken nicht anwesender konnte stets mit Leichtigkeit durch Eingebung während des hypnotischen Schlafes erzielt werden, ebenso positive und negative Täuschungen jedes anderen Sinnes.

Ein Medium, Herr J., glaubte nach dem Erwachen die ihm im Schlafe angekündigte junge Dame zu sehen, die Braut eines Bekannten, und stellte derselben einen der anwesenden Herren auf dessen Wunsch vor, reichte ihr auch schließlich galant den Arm, um sie, wie ihm vom Experimentator bedeutet worden war, auf den Bahnhof zu führen. Er würde sich zweifellos dorthin begeben haben, hätten ihn nicht Herr W. eilends von der Straße zurückgeholt und von seiner Sinnestäuschung befreit. War dem Schlafenden gesagt worden, dieser oder jener der anwesenden Herren sei nicht mehr zugegen, so konnte keine Frage des bezeichneten Herrn an das wiedererwachte Medium das letztere zu irgend einer Antwort bewegen, während es sich mit den anderen Anwesenden vernünftig unterhielt. Aufgefordert, die im Zimmer vorhandenen Personen zu zählen, brachte es in der That eine Person zu wenig heraus. Ganz wie man es verlangte, hörte der eine nach dem Erwachen eine schöne Musik, der andere innerhalb einer bestimmten vorhergesagten Frist einen heftigen Knall etc. Bemerkenswerth war ein Versuch, bei welchem dem schlafenden, gegen Nadelstiche empfindungslosen Medium gesagt wurde, es werde soeben mit einem glühenden Eisen berührt und die gebrannte Stelle werde nach dem Erwachen sich röthen, anschwellen und eine Blase erzeugen. Gleichzeitig berührte Herr W. die Wange der Versuchsperson mit seinem Finger. Nach dem Erwachen war das Medium anfangs gesprächig, klagte aber sehr bald über brennenden Schmerz auf der Wange; hierbei röthete sich die berührte Stelle zusehends und begann sich zu erheben. Zu einer Brandblase kam es indeß nicht.

Nun, diese durch hunderterlei Versuche festgestellte Macht der Eingebung ist es wohl jedenfalls gewesen, die zu anderen nicht unbedenklichen Erscheinungen, welche sich immer mehr steigerten, die erste Veranlassung gegeben haben mag. Ich meine nämlich die später für Pforzheim so charakteristisch gewordenen Tobsuchtsanfälle Hypnotisirter, deren allmähliche Entwickelung ich nunmehr schildern will. Der Anfang derselben reicht ziemlich weit zurück. In einer in der zweiten Junihälfte 1886 im Privatkreise angestellten Versuchsreihe ward nämlich in einem sehr brauchbaren Medium während des wachen Zustandes der Halbhypnose die Vorstellung erweckt, daß es in einem Walde in der Nähe Pforzheims von Strolchen angegriffen und verwundet worden sei und sein kostbares Dasein nunmehr mit Erfolg gegen dieselben vertheidige. Das Medium, ein kräftiger junger Arbeiter, spielte seine Rolle wunderschön. Mit wuthverzerrtem Gesicht ringend, gebärdete es sich, als ob es auf der Brust eines unsichtbaren Gegners kniee, denselben an der Gurgel packe und seinen Kopf wiederholt triumphirend gegen die Erde aufschlage. Die Scene sah so wildnatürlich aus, daß der Experimentirende ihr durch Erwecken des Mediums schnell ein Ende machte. Als Tags darauf mit dieser und noch einer andern Versuchsperson abermals vor größerem Zuschauerkreise experimentirt wurde, wiederholte sich die Wahnvorstellung und die Kampfscene ganz von selbst, mit allen ihren Einzelheiten ein getreues Spiegelbild des Vorganges am Tage vorher darstellend. Nur war diesmal der Ingrimm des um sich Schlagenden ein noch größerer und das Erwachen erschien etwas verzögert. Merkwürdigerweise zeigten sich nun bald auch bei anderen Medien ähnliche Erscheinungen. Die Fälle wurden verschieden besprochen. Namentlich hieß es, ein älterer Herr aus Freiburg, welcher, nebenbei bemerkt, viel in Spiritismus und ähnlichen Liebhabereien macht, habe sich dahin geäußert, daß solche Tobsuchtsanfälle immer dann eintreten, wenn ein bei den Versuchen Unbetheiligter mit seinem ungünstig wirkenden „magnetischen Fluidum“ den Hypnotisirten zu nahe trete oder sie gar berühre. Diese ganz unzutreffende Erklärung der oben erwähnten Fälle wurde nun allen Einwürfen zum Trotz so oft unvorsichtigerweise in Gegenwart wacher, hochgradig empfänglicher oder auch hypnotisirter Personen wiederholt, daß sie suggestiv wirken mußte. Thatsächlich traten von da ab dergleichen Anfälle immer häufiger ein; sie wirkten gewissermaßen ansteckend, weil ein Medium sie bei dem andern sah und unbewußt demselben nachahmte, namentlich da es viel zu viel von dieser Erscheinung während der Hypnose zu hören bekam.

Eine Zeit lang schien es in der That, als ob die Anfälle des tobenden, wilden Umherschlagens mit den Armen nur auf zufälliges, selbst ganz harmloses Eingreifen dritter Personen erfolgten, wiewohl umgekehrt in zahllosen Fällen trotz eines solchen Eingreifens keine Spur irgend welcher unangenehmen Wirkung bemerkbar wurde. Später trat sogar wiederholt das Symptom der Tobsucht während der Hypnose vollständig spontan ein, das heißt ohne jegliche Einwirkung anderer, so daß ein von vornherein bestehender ursächlicher Zusammenhang abgeschlossen sein dürfte. Am wahrscheinlichsten ist, wie gesagt, unbeabsichtigte Eingebung die Quelle der ganzen Manie gewesen. Ueberhaupt wurde die Erscheinung, daß die Medien allgemein anfingen wild zu werden, erst im Herbst wahrgenommen. Herrn W., der seine Versuchspersonen gut kannte und zu behandeln wußte, passirte sie höchst selten. Er ergriff in solchen Fällen den Uebelthäter, preßte ihn und seine Arme an sich oder gegen die Wand, machte ihn dadurch zunächst wehrlos und unschädlich und erweckte ihn sodann durch unbedeutende Bewegungen seiner eigenen freien Rechten vor dem Gesicht desselben. In zwei, drei Sekunden war auf diese Weise der ganze Anfall gedämpft und das erwachende Medium wußte nichts von seiner eben begangenen Unart. Außerordentlich wirksam und beruhigend erwies sich bei solchen Anlässen im Momente des Erwachens der Blick Herrn W.s, der das Medium stets noch durch Anrufen zwang, ihn selbst anzusehen. Etwas bedenklicher sah die Sache schon aus, wenn gleichzeitig mehrere Versuchspersonen zu toben und mit einander wüthend zu ringen begannen, wobei zunächst die im Wege stehenden Stühle, auf denen die Medien bis dahin gesessen hatten, mit Gepolter umgeworfen wurden und zur Seite flogen. Auch hier bewährte sich die Meisterschaft des Herrn W., der in allen vorgekommenen Fällen den wirren Menschenknäuel schnell trennte und in kürzester Frist Ruhe schaffte, bevor irgend jemand auch nur den mindesten Schaden hatte nehmen können. Weniger harmlos sollte sich die Erscheinung in der Folge bei anderen Experimentatoren gestalten.

Zunächst kam es in Brötzingen, dem nächsten Nachbardorfe Pforzheims, vor, daß Arbeiter abends im Wirthshause einen ihrer Genossen in Hypnose versetzten. Sehr bald wurde das Medium wild und tobsüchtig, woraus sich eine förmliche Keilerei entwickelte, da niemand den Rasenden zu bändigen und zu normalem Zustand zurückzuführen vermochte. Es mußte aus Pforzheim mitten in der Nacht ein Arzt herbeigeholt werden, der, am Orte der That angelangt, das Zimmer voller Menschen und die bewaffnete Macht des Dorfes in Person zweier Gendarmen und eines Wachtmeisters aufgeboten fand. Der hochgradig erregte Patient wurde alsbald kunstgerecht dem normalen menschlichen Bewußtsein wieder zurückgegeben. Während ihn aber der Arzt mit einigen kräftigen Worten auf das Unsinnige, sich zu solchen Versuchen herzugeben, aufmerksam machte, begannen bei jenem bereits wieder die Zeichen neuer Hypnose, aus der er abermals und zwar diesmal dauernd herausgerissen wurde.[1] Vielleicht mochte die hierbei eröffnete, wenig verlockende Aussicht, bei erneuertem Hypnoseanfall fünfundzwanzig geeigneten Orts aufgezählt zu erhalten, suggestiv gewirkt und den Mann munter erhalten haben.

In ein Pforzheimer Restaurant tritt eines Abends ein Experimentator, hinter ihm einige seiner Medien, die sich gerne da einstellten, wo Versuche zu erhoffen waren, weil da erfahrungsgemäß mit Freibier und fester Leibesstärkung nicht gekargt zu werden pflegte. Ein im Zimmer bereits anwesender junger Gast, ein ungläubiger Thomas, ruft dem Hypnotiseur, seinem Bekannten, höhnend zu, seine Experimente beruhten doch nur auf Schwindel.

„Was, Schwindel?“ entgegnet jener entrüstet, und, zu den Medien gewandt, ruft er die verhängnißvollen Worte: „Ihr seid keine Menschen! Ihr seid Hunde! Auf, packt mir den da!“

Der Erfolg war ein ganz überraschender, denn flugs ließ sich die ganze Schar aus alle Viere nieder und begann ein wüthendes Gebell und Geblaff, so gut sie es mit ihren hierin noch ganz ungeübten Kehlen zuwege bringen konnte. Gleichzeitig stürzte sich

  1. Im Sommer des Jahres 1887 hatte dieser Fall noch ein gerichtliches Nachspiel, wovon weiter unten die Rede sein soll.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 506. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_506.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)