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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

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Am Leuchtthurm.
Novelle von Gerhard Walter.
(Fortsetzung.)

Ich saß in der Veranda. Alles, alles, was ich vergessen glaubte, lebte in mir auf. Die alten Tage zogen einer nach dem andern an mir vorbei; aber glanzlos, wie in Nebel gehüllt. Sie war es gewesen – ich hatte mich nicht geirrt; aber sie war für mich verloren. Und nicht nur, daß ein anderer sie erworben: wir waren innerlich getrennt, ganz getrennt. Ich barg das Gesicht in den Händen. Nun war alles vorbei! – Und in meinem Herzen war die alte Liebe mit ungestümer Gewalt wach geworden! Was für ein Leben lag vor mir! So saß ich noch, als Wiebke neben mich trat.

Sie sah gehalten und ernst auf mich. „Wollen wir segeln? Der Wind kann umschlagen!“

Ich stand auf und ging neben ihr her. Wir stiegen ins Boot; sie setzte sich ans Steuer und ich machte das Segel los. Auf dem Stege standen Badegäste, die uns nachsahen.

„Ei, da möcht’ ich auch mitfahren!“ näselte ein junger Herr in Perlgrau und das Monocle ins Auge geklemmt. Eine rothe Rose flog herab, traf Wiebke vor die Brust und fiel in ihren Schoß. Sie nahm sie und warf sie ins Wasser.

„Abgeblitzt!“ rief eine andere Stimme. Jetzt bekam das Boot Fahrt, das Segel stand voll, wir entfernten uns vom Steg. Aus Versehen rührte mein Fuß an ihren; hastig zog sie ihn zurück. So saßen wir schweigend bei einander.

„Wiebke!“ sagte ich endlich – was hatte das arme Kind mir denn gethan? – und legte meine Hand auf die ihre. Sie ließ es geschehen, aber sah mich nicht an. „Ich habe Ihnen weh gethan –“

„Holen Sie die Schot besser an und belegen Sie dieselbe!“ sagte sie mit kühlem Ton; „wir liegen Kurs an, und der Wind ist hier beständig.“

„Wollen wir nicht wieder gute Kameraden sein?“ Ich hatte jetzt beide Hände frei und faßte die ihre so. Sie versuchte sie loszumachen und sah von mir weg auf die See. „Nein, Wiebke, lassen Sie uns in Frieden scheiden, Sie können nicht wissen, was mich wegtreibt von hier und was heute in meinen Weg gefallen ist –“

Da fuhr sie herum. Dunkle Gluth lag auf ihrem Gesicht. „Ja, ich weiß es! Sie meinen, Sie haben den Spaß mit dem Mädel doch zu weit getrieben in lustigem Weinrausch, und sie ist zu leicht darauf eingegangen“ – sie hielt ein und verschluckte mühsam die Thränen – „und nun wollen Sie fort – damit –“

Sie brach in lautes Weinen aus. Ich saß rathlos. Was halfen hier Versicherungen? Sie trocknete ihre Thränen. So saß sie wieder eine Weile still. Endlich sah sie mich an.

„Ist es wahr, daß Sie nicht meinetwegen fort wollen?“

„Das weiß Gott, Wiebke!“

„Wollen Sie mir einen Beweis dafür geben?“

„Kann ich das?“

„Ja; bleiben Sie bei uns!“

„Warum wollen Sie das?“

„Weil ich nie wieder zur Ruhe kommen könnte, wenn Sie meinetwegen gingen, weil Sie mich schrecklich unglücklich zurücklassen würden; weil ich mir vor mir selbst zeitlebens entehrt vorkommen würde –“ Jetzt war wieder Leben in ihrem Auge.

„Gut, Wiebke, ich bleibe!“

Da zog das erste Lächeln wieder über ihr sonst so sonniges Gesicht. „Tausend Dank!“

Es klang fröhlich. Und ich, ich konnte es thun! Mir war sie nicht mehr gefährlich. Noch in dem Augenblick, in dem ich sie auf immer verlor, war Hildegard als mein guter Engel zum zweiten Male über meinen Weg gegangen.

Jetzt kam das Fischerdorf hinter den Dünen in Sicht und das Haus mit dem rothen Ziegeldach. Sie zeigte darauf hin.

„Den Leuten da habe ich vielleicht heute gute Miether verschafft,“ sagte sie mit einem Ton des alten harmlosen Wesens.

„Wieso?“

„Als ich aus der Hausthür der Tante trat, kam mir ein Herr entgegen – ich hab’ ihn auch bei Tisch gesehen, flüchtig – es ging alles im wechselnd bunten Strom an mir vorüber; ich glaube, er saß in unserer Nähe, ziemlich dick, mit flacher Nase – und fragte mich sehr höflich, ob ich hier nicht ortsangehörig sei und ihm ein Quartier für Vier nachweisen könne, das nicht so unerschwinglich theuer wäre, irgendwo in der Nähe; es sei alles überfüllt in Stagersand. Da sagte ich ihm, an unser Gespräch von gestern denkend, er solle nur ’mal nach Fischbeck fahren, da gäbe es Quartier genug. Er fragte noch, ob ich dort aus der Gegend wäre, und ich sagte ihm, vom Leuchtthurm. Da meinte er, dann hoffe er mich wieder zu sehen, zeichnete den Namen in sein Taschenbuch und ging ebenso höflich, wie er gekommen.“

Ich hörte mit halbem Ohr zu. Es war mir im Grunde sehr gleichgültig.

Als wir nach schneller Fahrt unten am Fuße des Leuchtthurms anlegten, wurden gerade die Lichter angesteckt. Die Ebbe hatte schon angefangen zu laufen. Die eisernen Stufen, die in die Untermauerung eingelassen waren, lagen zum Theil trocken. An beiden Seiten hingen Ketten als eine Art beweglichen Geländers herab zur Hilfe beim Aussteigen aus dem Boot.

Wir holten das Segel ein und beschlugen es.

„Sind Sie mir ganz gewiß nicht mehr böse?“ fragte Wiebke leise.

„Nein, ich bin es nie gewesen!“

„Sagen Sie mir dann einmal, was Sie heute so anders werden ließ? Bitte, später – nicht jetzt – nicht heute.“

„Ich will sehen, ob ich’s kann, Wiebke; es ist eine traurige Geschichte –“ Ich kletterte hinauf; sie folgte. Oben stand Vater Volkers und rauchte. Er nickte schweigend.

Am Abend trank ich wohl wieder unten mein Bier und horchte auf das Sausen des Windes und das Klatschen der Seen und Wiebke sang ein Lied – aber mein Herz war weit, weit davon fern. – Ob an der polnischen Grenze oder am Meer – es ist alles eins: die Sorge reist mit dem Menschen, und das Leid fliegt ihn doch wieder an. Ich hätte auch zu Hause bleiben können. – Ich konnte auch hier bleiben!

Ich fischte und segelte und badete vom Boot aus im regelmäßigsten Leben, das sich denken läßt, und diese stille Regelmäßigkeit that mir wohl. Wenn ich draußen meine Angel auswarf und die großartige Einsamkeit des Meeres mich rings umgab, der sandige Strand einem Wolkenstreifen gleich am Horizont lag und nur der Leuchtthurm schlank aus der See aufragte, wenn die kleinen Wellen im leichten Seegang mein Boot wiegten und gegen seine Planken plätscherten, dann ward’s mir leichter, freier ums Herz. Ich war vielleicht auf dem Weg der Heilung.

Es war drei Tage nach der Fahrt mit Wiebke. Wir waren gute Freunde; aber unser Verkehr war harmloser, ungefährlicher geworden, als am Anfang.

Ich war vom Fischen zurückgekommen, hatte oben auf meiner Stube mir von Wiebke decken und auftragen lassen – alles zierlich und gut und freundlich – und unter dem Auflegen von Messer und Gabel erzählte sie mir, die vier Herrschaften von Stagersand seien richtig beim Krüger in Fischbeck eingezogen.

„Ach so, Ihr Verehrer!“ sagte ich, „der mit der platten Nase, nicht wahr?“

Sie lachte: „Ja; ich mag ihn nicht leiden; gestern begegnete er mir drüben am Strand und war wieder sehr freundlich und sagte, er würde mich nächstens besuchen; ich hab’ ihm gar nicht darauf geantwortet. Er wirft einem immer so wunderliche Augen zu und redet so komisches Zeug; das schickt sich doch nicht für einen verlobten Mann. Die junge Dame soll ja seine Braut sein.“ Damit ging sie.

Ich hatte meinen Mittagsschlummer gehalten und lehnte aus meinem Fensterlein. Die See lag regungslos wie ein großer Schild aus blankem Stahl vor mir. Kein Lufthauch rührte sich. „Heute sitzt es sich gut oben auf der Galerie, im Schatten der Laterne,“ sagte ich mir, nahm ein Buch und stieg, meinen Klappstuhl unter dem Arm, die paar Stufen hinauf bis an den Gang mit dem eisernen Gitter, der um die Laterne lief. Hier oben saß es sich wonnig. Ich schlug auf, da wo das rothe Seidenband lag – ich brauchte ja nie ein anderes Lesezeichen – und las und blickte hin über die See und las weiter, ganz in den Genuß der köstlichen Stunde vertieft. Da hörte ich unten am Fuß des Thurmes Stimmen und Ruderschlag.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 495. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_495.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)