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verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

welcher wenigstens ihr Fell zu retten sucht. Der Tod haust unter den alten wie unter den jungen Rentieren mit gleicher Unerbittlichkeit; die stärksten, stattlichsten Hirsche verfallen dem Würgengel ebenso sicher wie die Sprößlinge ihres und des anderen Geschlechtes.

Zwischen den sterbenden und verendeten Thieren aber wandeln und hasten die Menschen, der Herdenbesitzer Sehungei und seine Angehörigen und Knechte, um in sinnloser Gier zu retten, was sich irgend retten läßt.

Obwohl nicht unkundig der furchtbaren Gefahr, welcher sie sich aussetzen, wenn auch nur der geringste Theil eines Blutstropfens, ein Stäubchen des blasigen Schaumes mit ihrem Blute sich vermischt, obschon vertraut mit der Thatsache, daß bereits Hunderte ihres Volkes unter entsetzlichen Schmerzen der unheilbaren Seuche erlegen, arbeiten sie doch mit allen Kräften, um die vergifteten Thiere zu entfellen. Ein Beilschlag endet die Qualen der sterbenden Hirsche, ein Pfeilschuß das Leben der Kälber und einige Minuten später liegt das Fell, welches noch nach Wochen ansteckend wirken kann, bei den übrigen, tauchen die blutigen Hände den vom Leibe der Kälber losgelösten Bissen in das in der Brusthöhle des erlegten Thieres sich sammelnde Blut, um ihn roh zu verschlingen. Schindersknechten gleichen die Männer, scheußlichen Hexen die Frauen, im Aase wühlenden, blutbeschmierten, bluttriefenden Hyänen die einen wie die andern; achtlos des über ihrem Haupte schwebenden, nicht an einem Roßhaar, sondern an einer Spinnwebe aufgehängten, toddrohenden Schwertes, zerren und wühlen sie weiter, unterstützt sogar schon durch ihre Kinder, vom halberwachsenen Knaben an bis zu dem wie sie bluttriefenden, kaum dem Säuglingsalter entwachsenen Mädchen herab.

Die Tschums werden verrückt und auf einem benachbarten Hügel wieder aufgeschlagen; die unglückliche Herde, welche, zweitausend Köpfe stark, vom Ural aufgebrochen und auf zweihundert zusammengeschmolzen ist, welche die ganze von ihr beschrittene Straße durch gefallene Thiere bezeichnet hatte, sammelt sich von neuem um die Tschums; am anderen Morgen aber liegen wiederum vierzig Leichname in der Nähe des nächtlichen Ruheplatzes.

Wir kannten die Gefahr, welche das milzbrandige Thier auch dem Menschen bereiten kann; aber wir kannten sie doch nicht in ihrem ganzen, grausenerregenden Umfange. Deshalb kauften wir neun dem Anschein nach noch gesunde Renthiere, bespannten mit ihnen drei Schlitten, beluden dieselben mit unserem Gepäck und zogen, nebenher schreitend, erleichtert weiter. Renthierfleisch zu genießen, wie wir gehofft, worauf wir gerechnet, verbot die furchtbare Seuche; sorgender und ängstlicher spähten wir daher von jetzt an in die Runde, um Kleinwild ausfindig zu machen, ein Morasthuhn, eine Doppelschnepfe, einen Goldregenpfeifer, eine Ente zu erlegen. Unsere geringen Vorräthe so viel als möglich schonend, hockten wir, falls die geringste aller Dianen dienenden Nymphen uns hold gewesen war, um das mühsam genährte Feuer, je männiglich ein so unbedeutendes Gewild am Spieße bratend, so gut es eben gehen wollte. Wirklich zu sättigen aber vermochten wir uns nicht mehr.

Wir erreichten, nachdem wir die von Sehungei gezogene Todesstraße gekreuzt, das erste Ziel, die Bodarata; wir hatten das unnennbare Glück, noch einmal Tschums aufzufinden, noch einmal auf Renthiere zu stoßen; wir zogen mit deren Hilfe dem Meere zu und mußten umkehren, ohne unseren Fuß auf den Strand gesetzt zu haben. Vor uns lag nicht allein ein unwegsamer Morast, sondern wiederum ein unabsehbarer Haufen von Renthierleichen; wir standen noch einmal vor der Straße, auf welcher Sehungei heimwärts geflüchtet war, und unser neuer Bekannter, der Hirt Sanza, wagte nicht, diese Straße zu kreuzen.

Denn auch unter seiner Herde mähete der Schnitter Tod; auch sein und, noch ungleich mehr, seines Nachbarhirten Haus hatte das Verderben heimgesucht. Der Mann, welcher bisher mit ihm gewandert, geweidet, hatte von einem milzkranken feisten Renthierhirsche gegessen, welchen er kurz vor dem Tode noch rasch geschlachtet, und er hatte diesen Frevel mit dem eigenen und dem Leben seiner Familienglieder zahlen müssen. Dreimal hatte Hirt Sanza seinen Tschum verrückt und dreimal je ein Grab zwischen den Leichen der gefallenen Renthiere gegraben. Zuerst waren zwei Kinder, dann der Knecht des leichtsinnigen Mannes, am dritten Tage er selbst gestorben und begraben worden. Ein Kind war noch krank und stöhnte unter entsetzlichen Schmerzen, als wir die Reise nach dem Meere antraten. Sein Stöhnen war verstummt, als wir zurückkehrten zum Tschum: denn das vierte Grab hatte inzwischen das fünfte Opfer aufgenommen. Und noch sollte es nicht das letzte sein.

Einer unserer Leute, der Ostjake Hadt, ein williger, immer heiterer, uns lieb und werth gewordener Mann, klagte und wand sich seit vorgestern unter entsetzlichen, mehr und mehr sich steigernden Schmerzen, klagte namentlich auch über zunehmendes Kältegefühl. Wir hatten ihn auf einen Renthierschlitten gelagert, als wir dem Tschum des Hirten zugewandert waren; wir schafften ihn in derselben Weise fort, als der Tschum zum fünften Male verrückt wurde. Unter und zwischen uns lag er klagend und wimmernd am Feuer. Von Zeit zu Zeit erhob er sich, entblößte seinen Leib und ließ die Wärme des Feuers dagegen strahlen. Ebenso brachte er seine erstarrenden Füße gegen die Flammen – daß diese die Sohlen versengten, schien er nicht zu achten. Endlich schliefen wir ein, er wohl auch; als wir jedoch am andern Morgen erwachten, war seine Ruhestätte leer. Draußen aber vor dem Tschum, an einen Schlitten gelehnt, das Antlitz der Sonne zu gekehrt, deren wärmende Strahlen er gesucht, saß er ruhig und still, ohne zu stöhnen oder zu ächzen. Hadt war todt.

Wir begruben ihn wenige Stunden später nach Sitte und Gebrauch seines Volkes. Er war ein ehrlicher „Heide“ gewesen und sollte deshalb auch nach heidnischer Weise bestattet werden. Unsere „rechtgläubigen“ Begleiter weigerten sich, dies zu thun; unsere „heidnischen“ Gefährten verrichteten daher das zwar nicht christliche, aber doch menschenwürdige Werk nur mit unserer Hilfe. Im fünften Grabe lag das sechste Opfer.

Sollte das Grab das letzte gewesen sein? Unwillkürlich legte ich mir diese Frage vor: denn unheimlich wurde es mir und wohl uns allen in diesem Geleite des Todes. Zu unserem Glücke war Hadts Grab das letzte auf diesem Wege.

Ernst, sehr ernst gestimmt, bedrängt auch durch den immer fühlbarer werdenden Mangel zogen wir weiter, der Schtschutschja wiederum entgegen. Sanza ernährte nothdürftig unsere Leute, unsere Jagdkunst in kärglicher Weise uns selber. Als es uns gelang, an einem einzigen Vormittage eine Familie von Gänsen zu erbeuten und dazu noch Hühner und Schnepfen und Regenpfeifer zu erlegen, feierten wir ein Fest; denn wir waren einmal im Stande zu essen, ohne mit den Bissen zu kargen. Ohne die Hilfe unseres Wirthes aber würde es uns doch kaum möglich gewesen sein, uns durchzuhelfen.

Wir erreichten die Schtschutschja; wir langten, von allen Vorräthen fast entblößt, wiederum auf unserem Boote an und schwelgten hier nach vierzehn Tagen zum ersten Male wieder in zwar sehr bescheidenen, für uns jedoch unschätzbaren, langentbehrten Genüssen. Von der Tundra nahmen wir Abschied für immer.

Ein Schamane freilich, welchen wir weiter oben am Ob mit Fischen beschäftigt fanden und baten, uns eine Probe seiner Kunst und Weisheit abzulegen, verkündete uns, nachdem er durch den dumpfen Klang seiner Trommel Jamaul, den ihm befreundeten Boten der Götter, herbeigerufen, als Botschaft der Himmlischen, daß wir schon im nächsten Jahre wiederum in das unwirthliche Land, welches wir soeben verlassen, zurückkehren, dann aber dahin uns wenden würden, wo Schtschutschja, Bodarata und Ussa ihren Lauf begonnen, denn zwei Kaiser würden uns belohnen, unsere „Aeltesten“ mit unseren Schriften zufrieden sein und uns von neuem aussenden. Auf dieser Reise aber werde fernerhin kein weiterer Unfall uns treffen. So habe sich der Götterbote, nur ihm vernehmbar, geäußert. Der letzte Theil seiner Weissagung ist eingetroffen.

Langsam zwar, aber ohne Unfall oder störende Zwischenfälle fuhren wir 23 Tage lang den Ob aufwärts, drei Tage mit einem nach langem Harren glücklich erreichten Dampfschiffe den Wellen des Irtisch entgegen. Ohne Unfall, wenn auch nicht ohne Hemmnisse, überschritten wir den Ural; rasch glitten wir im bequemen Dampfer die Kama hinab; langsamer trug uns das Schiff die Wolga hinauf. In Nischni Nowgorod, in Moskau, in Petersburg wurden wir freundlich empfangen wie das erste Mal, in der Heimath freudig begrüßt. Unsere „Aeltesten“ scheinen auch mit unseren Schriften zufrieden zu sein – zur Tundra zurück aber ziehen wir, ziehe ich wenigstens nicht wieder.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1888, Seite 449. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_449.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)