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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

„Alles andere haben wir verloren; wir verstanden es eben nicht, zu sparen und zu schachern, und da ist eines ums andere hingegangen! Aber das alte Nest, wo die Wiege unseres Hauses stand, das hat keiner hergegeben, das haben wir festgehalten in Sturm und Noth und Unglück. Lieber hätten wir gedarbt und gehungert, als davon gelassen. Und nun kommt Ihre Eisenbahn und will mein Haus dem Boden gleich machen, will hundertjährige Rechte zerreißen und mir nehmen, was von Gottes und Rechtswegen mein ist? Sie soll es nur versuchen! Ich sage Nein und nochmals Nein – das ist mein letztes Wort!“

Er sah in der That aus, als wolle er dies Recht auf Leben und Tod vertheidigen, und ein anderer hätte dem leidenschaftlichen Manne gegenüber wohl geschwiegen oder die Auseinandersetzung verschoben. Wolfgang dachte nicht daran; er hatte sich nun einmal vorgenommen, die Sache zu Ende zu bringen, und ging unbeirrt seinen Weg.

„Die Berge da draußen stehen noch länger als der Wolkensteiner Hof,“ sagte er ernst, „und die Wälder wurzeln noch fester im Boden, als Sie in Ihrer Heimath, und doch müssen sie weichen. Ich fürchte, Herr von Thurgau, Sie haben keine Vorstellung davon, welch ein Riesenwerk unser Unternehmen ist, mit welchen Mitteln es arbeitet und was für Hindernisse es überwinden muß. Wir graben uns mitten durch die Felsen und Wälder, zwingen die Ströme in ihrem Lauf, überbrücken die Schluchten und was uns im Wege steht, das muß nieder. Wir nehmen den Kampf mit den Elementen auf und bleiben Sieger darin – fragen Sie sich selbst, ob da der Wille eines Einzelnen uns Halt gebieten kann?“

Es folgte eine sekundenlange Pause. Thurgau gab keine Antwort; sein wilder Jähzorn schien sich zu brechen an der unerschütterlichen Ruhe dieses Gegners, der in rücksichtsvollster Haltung vor ihm stand und streng den Ton der Höflichkeit festhielt. Aber die klare Stimme hatte einen eisernen, unerbittlichen Klang, und der Blick, der so fest und kalt auf den Freiherrn gerichtet war, schien diesen förmlich zu bannen. Er war bisher jeder Vorstellung, jedem Zureden unzugänglich gewesen; mit der ganzen Hartnäckigkeit seines Charakters hatte er sich an sein vermeintliches Recht geklammert, das in seinen Augen so unerschütterlich war wie die Berge selbst. Jetzt zum ersten Male kam ihm eine Ahnung, daß sein Trotz gebrochen werden könne, daß er unterliegen müsse im Kampfe mit einer Macht, die ihre eiserne Hand selbst an die Berge legte. Er stützte sich wieder schwer auf den Tisch und rang nach Athem; es war, als versagte ihm die Sprache.

„Sie dürfen überzeugt sein, daß wir mit aller nur möglichen Rücksicht zu Werke gehen,“ nahm Wolfgang wieder das Wort. „Die Vorarbeiten, die wir zunächst in Angriff nehmen, werden Sie kaum stören, und während des Winters bleiben Sie überhaupt ganz unbehelligt; erst mit dem Frühjahr beginnt der eigentliche Bau, und dann allerdings –“

„Muß ich weichen, meinen Sie?“ ergänzte Thurgau mit heiserer Stimme.

„Ja, Sie müssen, Herr Baron!“ sagte Elmhorst kalt.

Das verhängnißvolle Wort, dessen Wahrheit er gleichwohl empfand, raubte dem Freiherrn den letzten Rest seiner Fassung; er bäumte sich dagegen auf mit einer Heftigkeit, die etwas Erschreckendes hatte und wirklich an seiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln ließ.

„Ich will aber nicht – will nicht, sage ich Euch!“ stieß er außer sich hervor. „Und wenn Euch Felsen und Wälder weichen, ich gehe nicht aus dem Wege. Aber nehmt Euch in Acht mit unseren Bergen, die Ihr so hochmüthig zwingen wollt, daß sie nicht herabstürzen und all Eure Bauten und Brücken wie Splitter entzweibrechen. Ich wollte, ich könnte dabei stehen und es mit ansehen, wie das ganze verfluchte Werk in Trümmer geht; ich wollte –“

Er vollendete nicht, sondern griff zusammenzuckend mit beiden Händen nach seiner Brust, das letzte Wort erstarb in einem dumpfen Stöhnen, und dann stürzte die mächtige Gestalt wie vom Blitze getroffen zu Boden.

„Um Gotteswillen!“ rief Doktor Reinsfeld, der schon während der letzten stürmischen Scene in der Thür des Nebenzimmers erschienen war und jetzt herbeieilte. Aber Erna war ihm bereits zuvorgekommen; sie erreichte den Vater zuerst und warf sich mit einem Schreckensrufe bei ihm nieder.

„Aengstigen Sie sich nicht, Fräulein Erna!“ sagte der junge Arzt, sie sanft zurückdrängend, während er mit Elmhorsts Hilfe den Bewußtlosen aufhob und auf das Sofa legte. „Es ist eine Ohnmacht – ein Schwindelanfall, wie ihn der Herr Baron schon vor einigen Wochen gehabt hat – er wird sich auch diesmal erholen.“

Das junge Mädchen war ihnen gefolgt und stand jetzt da mit krampfhaft verschlungenen Händen, die Augen starr auf das Gesicht des Sprechenden gerichtet; sie mochte wohl etwas darin lesen, was den tröstenden Worten widersprach.

„Nein, nein!“ stieß sie angstvoll hervor. „Sie täuschen mich, das ist etwas anderes. Er stirbt, ich sehe es! – Papa, Papa, ich bin es! Kennst Du Deine Erna nicht mehr?“

Benno antwortete nicht, sondern riß den Rock des Kranken auf; Elmhorst wollte ihm dabei Hilfe leisten; aber Erna stieß mit furchtbarer Heftigkeit seine Hand zurück.

„Rühren Sie ihn nicht an!“ rief sie mit halb erstickter Stimme. „Sie haben ihm den Tod gebracht, mit Ihnen ist das Verderben in unser Haus gekommen! Fort von ihm! Ich leide nicht, daß Sie auch nur seine Hand anrühren!“

Wolfgang wich unwillkürlich zurück und blickte betroffen, fast erschreckt auf das Mädchen, das in diesem Augenblick kein Kind mehr war. Sie hatte sich vor den Vater geworfen mit weit ausgebreiteten Armen, als müsse sie ihn schützen und vertheidigen und ihre Augen flammten in so wildem, grenzenlosem Hasse, als sei es ein Todfeind, der da vor ihr stehe.

„Geh’, Wolfgang!“ sagte Reinsfeld leise, indem er ihn fortzog. „Das arme Kind ist ungerecht in seinem Schmerze und Du kannst überhaupt nicht bleiben. Es ist möglich, daß der Baron noch einmal zur Besinnung kommt – dann darf er gerade Dich nicht sehen.“

„Noch einmal?“ wiederholte Elmhorst. „Du fürchtest also–?“

„Das Schlimmste! Geh’ und schicke mir die alte Vroni zur Hilfe, sie wird wohl irgendwo im Hause zu finden sein. Warte draußen, ich bringe Dir sobald als möglich Nachricht.“

Er drängte mit diesen nur geflüsterten Worten den Freund nach der Thür. Wolfgang kam schweigend der Weisung nach; er schickte die alte Magd, die er im Hausflur traf, in das Zimmer und trat dann ins Freie, aber auf seiner Stirn lag eine finstere Wolke. Wer konnte auch einen solchen Ausgang ahnen! –

Eine Viertelstunde mochte vergangen sein, da erschien Benno Reinsfeld. Er war sehr blaß, und seine sonst so klaren Augen hatten einen feuchten Schimmer.

„Nun?“ fragte Wolfgang hastig.

„Es ist vorüber!“ entgegnete der junge Arzt halblaut. „Ein Schlaganfall, der unbedingt tödlich war – ich sah es in der ersten Minute.“

Wolfgang schien eine solche Nachricht doch nicht erwartet zu haben; seine Lippen zuckten, als er in gepreßtem Tone sagte:

„Die Sache ist mir furchtbar peinlich, Benno, wenn ich auch keine Schuld an dem unseligen Zufall trage! Ich bin mit aller Rücksicht zu Werke gegangen. Aber wir werden den Präsidenten benachrichtigen müssen.“

„Gewiß, er ist der einzige nähere Verwandte, so viel ich weiß. Ich bleibe inzwischen bei dem armen Kinde, das ganz fassungslos ist. Willst Du es übernehmen, einen Boten nach Heilborn zu schicken?“

„Ich fahre selbst hinüber und bringe Nordheim die Nachricht. Leb’ wohl!“

„Leb’ wohl,“ sagte Benno einsilbig und kehrte in das Haus zurück. Wolfgang wandte sich zum Gehen, hielt aber plötzlich inne und trat dann langsam an das Fenster, das zur Hälfte offen stand.

Drinnen im Zimmer lag Erna auf den Knieen und hielt mit beiden Armen die Leiche des Vaters umklammert. Der leidenschaftliche Mann aber, der noch vor einer Viertelstunde hier in voller Lebenskraft gestanden und sich so trotzig aufgebäumt hatte gegen eine unabwendbare Nothwendigkeit, lag jetzt still und regungslos ausgestreckt; er vernahm nicht mehr das verzweiflungsvolle Weinen seines verwaisten Kindes. Das Schicksal hatte seine Worte zur Wahrheit gemacht: der Wolkensteiner Hof blieb bei dem alten Geschlechte, dessen Wiege er gewesen war, bis der letzte Thurgau die Augen geschlossen hatte für immer.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 439. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_439.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)