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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Birken, hier zeigen sie beide Bäume mit dazwischen eingesprengten Linden, Erlen, Espen, Schwarz- und Weißpappeln, über deren runde Krone die cypressenartigen Wipfel der herrlichen Pichta oder sibirischen Tanne wie Kerzen emporragen. Die Dörfer sind durchschnittlich größer, die Häuser stattlicher als in den bisher durchreisten Gegenden, die Wege aber über alle Begriffe schlecht. „Mit müder Qual“ schleichen Tausende von Frachtwagen auf oder richtiger in tiefkothigen Geleisen dahin, langsam und verdrießlich auch wir, bis wir endlich, nach dreitägiger Fahrt, die Wasserscheide der beiden großen Stromgebiete der Wolga und des Ob erreichen und durch einen Denkstein, auf dessen Westseite das Wort „Europa“, auf dessen Ostseite das Wort „Asien“ eingegraben ist, erfahren, daß wir die Grenze des heimatlichen Erdtheils überschritten haben. Unter dem Klange der Gläser gedenken wir der fernen Lieben.

Das freundliche Jekaterinburg mit seinen Goldschmelzen und Steinschleifereien darf uns, trotz der Gastlichkeit seiner Bewohner, nur kurze Zeit fesseln; denn mächtiger und eindringlicher regt sich der Frühling, und weicher und morscher wird das Eis der Flüsse und Ströme, welches bis nach dem fernen Omsk uns noch als Brücke dienen soll. Rastlos eilen wir weiter durch die Gefilde des asiatischen Theiles des Permschen Gouvernements, bis wir dessen Grenze und damit Westsibirien erreichen.

Hier, im ersten Posthause, erwartet uns der Kreishauptmann von Tjumén, um uns im Namen des Statthalters zu begrüßen und durch seinen Kreis zu geleiten; in der Hauptstadt desselben finden wir das Haus eines reichen Mannes zu unserem Empfange bereit. Fortan lernen wir erfahren, was russische Gastlichkeit bedeutet. Auch bisher hatte man uns allerorten gastlich empfangen, gastlich bewirthet; von jetzt an sind überall die höchsten Beamten des Kreises, der Provinz zu unseren Gunsten rege und thätig, die vornehmsten Häuser zu unserer Aufnahme geöffnet. Wie Fürsten hat man uns behandelt, bloß weil wir wissenschaftliche Zwecke verfolgten. So dankbar wir dies auch anerkennen, warm genug zu danken vermögen wir nicht, denn dazu fehlen uns die Worte.

Hinter oder jenseit Tjumén, woselbst wir drei Tage verweilten, um die Gefängnisse der Verbannten, die Lederfabriken und andere Sehenswürdigkeiten der ersten sibirischen Stadt in Augenschein zu nehmen, zeigten uns die Bauern, wie sie sogar die Flüsse zu bemeistern wissen. Der kommende Frühling hatte auch das Eis der Pyschma gelöst, und die Schollen begannen sich in Bewegung zu setzen, wir aber sollten vorher noch über den Fluß setzen. Unser harrend, stand die Bewohnerschaft des Dorfes Ramanoffskoje entblößten Hauptes vor der Pyschma; unser harrend, mußte auch diese sich gedulden, bevor sie ihre krystallenen Fesseln abschütteln durfte. Mit ebenso viel Geschick wie Kühnheit hatte man eine Noth- und Hilfsbrücke über den theilweise bereits eisfreien Fluß geschlagen, ein größeres Boot als mittlere Unterlage benutzend, die des Abgangs verdächtigen Eisflötze oberhalb und neben dieser Brücke aber mit starken Tauen und Stricken festgebunden. Geschäftige Hände entschirrten die für die heutige Fahrt erforderlichen Fünfgespanne, packten Achsen und Speichen, griffen handfest zu und führten einen Wagen nach dem andern über die schwankende, wellenförmig sich biegende, knarrende und ächzende Brücke. Sie hatte ihren Zweck erfüllt; drüben ging’s lustig weiter durch Wasser und Schnee, Schlamm und Koth, über Knüppeldämme und Eis.

Minder fügsam erwies sich der Tobol, welchen wir am Karfreitage den 14. April und dem ersten eigentlichen Frühlingstage überschreiten wollten. Auch hier hatte man alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen, um uns überzusetzen, sogar einen unserer Wagen bereits ausgespannt und auf die Eisdecke gerollt, als diese krachend sich theilte und zu schleunigstem Rückzuge nöthigte. Fröhlich waren die Glöcklein im Krummholze erklungen, als wir Jalutaroffsk verlassen; traurig läuteten sie uns wieder nach dieser Kreisstadt zurück, und erst am Ostertage konnten wir den großen Fluß mit Hilfe einer Fähre überschreiten.

So ging es weiter; vor oder hinter uns warfen die Flüsse ihre Winterdecken ab, nur der gefürchtete Irtisch lag noch erstarrt und sicher unter uns, und so erreichten wir Omsk, die Hauptstadt Westsibiriens, nach mehr als monatiger Reise ohne weitere Zwischenfälle.

Nachdem wir in Omsk gesehen, was zu sehen war: die Straßen und Häuser, das Kadettenhaus, Museum, Krankenhaus, das Kriegsgefängniß und anderes mehr, fuhren wir auf der längs des rechten Irtischufers sich dahinziehenden, die Dörfer der sogenannten Kosakenlinie verbindenden Straße nach Semipalatinsk weiter. Schon zwischen Jalutaroffsk und Omsk hatten wir eine Steppe, die von Ishim, durchreist; jetzt umgab sie uns von allen Seiten, und allnächtlich fast rötheten die Flammen ihres in Brand gesteckten vorjährigen Grases und Krautes den Himmel. Längs des Irtisch zogen die Wandervögel dahin, unmittelbar hinter dem nordwärts treibenden Eise her; die Wasservögel erfüllten alle Altwässer und Steppenseen mit ihrer Menge; verschiedene Lerchenarten trieben sich in starken Flügen am Wege umher; die niedlichen Falken der Steppen hatten ihre Sommerstände bereits wieder bezogen: der Frühling war zur Wahrheit geworden.

In Semipalatinsk hatten wir das Glück, in dem Gouverneur, General von Poltorattski, einen warmen Freund und Beförderer unserer Bestrebungen, in seiner Gemahlin die liebenswürdigste Wirthin zu finden, welche wir überhaupt hätten finden können. Nicht zufrieden damit, uns in Semipalatinsk die gastlichste Aufnahme bereitet zu haben, beschloß der General, uns in der ansprechendsten Weise mit dem Haupttheile der Bevölkerung seines Gebietes, den Kirgisen, bekannt zu machen, und veranstaltete zu diesem Zwecke eine großartige Jagd auf Archare, Wildschafe, deren Größe die unserer Hausschafe fast um das Doppelte übertrifft.

Am dritten Mai brachen wir zu dieser Jagd auf, setzten über den Irtisch und fuhren auf der Poststraße nach Taschkent in die Kirgisensteppe hinein. Nach sechzehnstündiger Fahrt hatten wir das Jagdgebiet, ein felsiges Steppengebirge, erreicht; bald darauf standen wir vor dem unseretwegen errichteten Aul oder Jurtenlager, freundlich begrüßt von der uns gestern vorausgeeilten Frau Generalin, herzlich auch von einigen zwanzig kirgisischen Sultanen, Gemeindevorstehern und deren zahlreichem Gefolge.

An den drei folgenden Tagen ging’s hoch her in den Arkatbergen. Für die stets nach Festlichkeiten verlangenden Kirgisen waren Feiertage angebrochen, für uns nicht minder. Das Thal und die Berge wurden laut unter dem Hufschlage der achtzig Reiter oder mehr, welche an den beiden nächsten Tagen zur Jagd hinauszogen; die Sonne blitzte, so oft sie sich zeigte, auf bunte, fremdartige Gewänder herab, welche bisher unter Pelzen verhüllt gewesen waren; lebendiges Gewimmel erfüllte Berge und Thalschluchten. Mit ihren besten Rennpferden, ihren werthvollsten Kostgängern, gezähmten Steinadlern, Windhunden und Kamelen, mit Citherspielern und Stegreifdichtern, Ringkämpfern und sonstigen Recken waren sie erschienen, die einst so gefürchteten Kirgisen, deren Name nichts anderes als Räuber bedeutet, heute die gefügigsten, getreuesten und zufriedensten Unterthanen des russischen Reiches. In Gruppen und Haufen saßen sie beisammen; einzeln und in Scharen sprengten sie hin und her, in Lust und Uebermuth ihre Rosse tummelnd; mit regster Aufmerksamkeit folgten sie dem Ringkampfe, mit Begeisterung den von Knaben gerittenen Rennpferden; mit Geschick und Verständniß leiteten sie die Jagd, mit Entzücken lauschten sie auf die Worte des Stegreifdichters, welcher diese Jagd besang. Ein Kirgise hatte schon vor unserer Ankunft einen Archar erlegt; mir führte das Jagdglück einen zweiten vor die sichere Büchse. Dieses Jagdglück war es, welches den Stegreifdichter begeisterte. Seine Verse waren zwar nicht besonders inhaltreich und tief gedacht, jedoch immerhin so eigenartig, daß ich sie aufzeichnete, um die erste Probe kirgisischer Dichtung zu sammeln. Während der Mann sang, übersetzte der Dolmetscher ins Russische, der General ins Deutsche, und als der Sänger geendet, hatte auch ich seine Worte eilschriftlich zu Papier gebracht.

„Sprich nur, rothe Zunge, sprich so lange du noch Leben hast; denn nach dem Tode wirst du stumm sein.
Sprich nur, rothe Zunge, die mir Gott gegeben, nach dem Tode wirst du schweigen.
Worte wie jetzt dir entklingen, nach dem Tode werden sie dich nicht verlassen.
Leute, ragend wie die Berge, seh’ ich vor mir; ihnen will ich Wahrheit sagen.
Berge, Felsen glaube ich vor mir zu sehen; mit dem Rennpferd mag ich sie vergleichen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 395. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_395.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)