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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

„In dem eleganten langweiligen Modenest wird kein Mensch gesund,“ erklärte Thurgau verächtlich. „Du solltest uns das Mädel hierher schicken, da hat sie die Alpenluft aus erster Hand.“

Nordheims Blick glitt mit einem nicht mißzuverstehenden Ausdruck durch das Zimmer, über den schlafenden Greif hin und blieb zuletzt auf seinem Schwager haften.

„Du bist sehr freundlich, aber wir müssen uns wohl an die ärztliche Vorschrift halten. Wir werden uns doch sehen in den nächsten Tagen?“

„Natürlich, Heilborn ist ja kaum zwei Stunden entfernt!“ rief der Freiherr, dem das Kühle und Gezwungene der Einladung völlig entging; „ich komme jedenfalls mit Erna hinüber.“

Er stand gleichfalls auf, um den Gast zu geleiten; die Meinungsverschiedenheiten, denen er bisweilen einen so drastischen Ausdruck gegeben hatte, waren in seinen Augen gar kein Hinderniß für die verwandtschaftliche Zuneigung, und er entließ den Schwager mit der derben Herzlichkeit, die ihm eigen war. Jetzt kam auch Erna wie ein wilder Vogel die Treppe herabgeflattert und alle drei traten auf den Vorplatz des Hauses.

Hier fuhr soeben der Bergwagen vor, der vor einigen Stunden den Präsidenten gebracht hatte und auf den grundlosen Wegen nicht ohne Mühe bis zum Wolkensteiner Hofe vorgedrungen war. Gleichzeitig trat ein junger Mann durch das Eingangsthor und näherte sich grüßend dem Herrn des Hauses.

„Guten Tag, Doktor!“ rief dieser jovial, während Erna mit der Freiheit und Unbefangenheit eines Kindes dem Ankömmlinge entgegeneilte und ihm die Hand bot, und zu seinem Schwager gewendet setzte er hinzu: „Das ist unser Aeskulap und Leibarzt! Dem solltest Du einmal Deine Alice anvertrauen, der Mann versteht seine Sache.“

Nordheim, der mit deutlichem Mißfallen jene vertrauliche Begrüßung seiner Nichte bemerkt hatte, griff nachlässig an seinen Hut und beehrte den jungen Landarzt, der eine etwas unbeholfene und linkische Verbeugung machte, kaum mit einem flüchtigen Blick. Er reichte seinem Schwager die Hand, küßte Erna auf die Stirn und stieg ein; wenige Minuten später rollte der Wagen davon.

„Jetzt kommen Sie herein, Doktor Reinsfeld,“ sagte der Freiherr, dem es erst nach dieser Abfahrt recht behaglich zu werden schien. „Aber da fällt mir ein, daß Sie meinen Schwager so noch gar nicht kennen – den Herrn, der soeben fortfuhr.“

„Präsident Nordheim – ich weiß,“ entgegnete Reinsfeld, während sein Blick dem Wagen folgte, der soeben in einer Biegung des Weges verschwand.

„Merkwürdig!“ brummte Thurgau. „Alle Welt kennt ihn und er ist doch seit Jahren nicht hier gewesen. Es ist gerade, wie wenn ein Potentat durch die Berge fährt!“

Er trat in das Haus; der junge Arzt zögerte noch einen Augenblick, ehe er folgte. Er sah sich nach Erna um, aber diese stand auf der niedrigen Mauer, die das Gehöft umgab, und beobachtete die nicht ganz unbedenkliche Niederfahrt des Wagens.

Doktor Reinsfeld mochte sechs- oder siebenundzwanzig Jahr alt sein; er hatte nicht ganz die riesige Gestalt des Freiherrn, war aber immerhin eine kraftvoll derbe Erscheinung. Hübsch war er allerdings nicht; eher hätte man das Gegentheil behaupten können; aber es wurde einem unwillkürlich warm ums Herz, wenn man in diese blauen Augen schaute, die so klar und kindlich vertrauend in die Welt blickten, in dies Gesicht, dem die Herzensgüte an der Stirn geschrieben stand. Die Haltung und das Auftreten des jungen Mannes verriethen freilich die vollste Unbekanntschaft mit den gesellschaftlichen Formen und auch der Anzug ließ manches zu wünschen übrig. Die graue Gebirgsjoppe und der alte graue Filzhut hatten offenbar schon manchen Tag gesehen, manchen Regenguß miteinander ausgehalten und die Bergschuhe mit ihren nägelbeschlagenen Sohlen trugen reichliche Spuren des durchweichten Bodens. Sie gaben Zeugniß davon, daß dem Herrn Doktor für seine Besuche nicht einmal ein bescheidenes Reitthier zu Gebote stand; er wanderte zu Fuß, wohin seine Pflicht ihn rief.

„Nun, wie geht es, Herr Baron?“ fragte er, als sie im Zimmer einander gegenüber saßen. „Alles in Ordnung? Der Anfall von neulich hat sich doch nicht wiederholt?“

„Alles in Ordnung!“ lachte Thurgau. „Ich bin wieder ganz der Alte. Ich begreife überhaupt nicht, daß Sie von dem kleinen Schwindelanfall so viel Aufhebens machen. Eine Natur wie die meine giebt Ihnen und Ihresgleichen nicht viel zu thun.“

„Wir dürfen die Sache doch nicht zu leicht nehmen! Gerade in Ihren Jahren muß man vorsichtig sein,“ meinte der junge Arzt. „Ich hoffe allerdings, daß es nichts auf sich hat, wenn Sie nur meinen Rathschlägen folgen: vermeiden jeder Erhitzung und Aufregung, eine möglichst einfache Diät, eine theilweise Aenderung Ihrer gewohnten Lebensweise – ich habe Ihnen ja die einzelnen Vorschriften bereits gegeben.“

„Ja, das haben Sie gethan, aber ich befolge sie nicht,“ erklärte der Freiherr ganz gemächlich, indem er sich in seinen Stuhl zurücklehnte.

„Aber, Herr von Thurgau –“

„Lassen Sie mich in Ruhe, Doktor! Das Leben, das sie mir vorschreiben wollen, ist überhaupt gar kein Leben mehr. Ich soll mich schonen, ich, der ich gewohnt bin, den Gemsen nachzusteigen bis auf den höchsten Grat, der sich weder um Sonnengluth, noch um Schneesturm gekümmert hat und immer der Erste war, wenn es etwas Gefährliches gab in unseren Bergen! Ich soll meine geliebte Jagd im Stiche lassen, soll Wasser trinken und mich ängstlich hüten vor jeder Aufregung, wie ein nervenschwaches Frauenzimmer? Unsinn! Fällt mir gar nicht ein!“

„Aber ich habe Ihnen nicht verhehlt, daß jener Anfall bedenklich war, daß die Folgen gefährlich werden können.“

„Meinetwegen! Der Mensch entgeht seinem Schicksale doch nicht und ich tauge nun einmal nicht für ein solches Jammerleben, wie Sie es mir in Aussicht stellen. Lieber ein rasches seliges Ende!“

Reinsfeld sah nachdenklich vor sich hin und sagte halblaut:

„Eigentlich haben Sie recht, Herr Baron, aber –“ er kam nicht weiter, denn Thurgau schlug ein lautes Gelächter auf.

„Das nenne ich mir einen gewissenhaften Arzt! Wenn man ihm erklärt, daß man sich den Kuckuck um seine Verordnungen scheert, sagt er: Sie haben ganz recht! Ja, ich habe auch recht, das sehen Sie selbst ein.“

Der Doktor wollte sich gegen diese Auffassung seiner Worte verwahren, aber Thurgau lachte immer unbändiger und jetzt kam auch Erna herein mit Greif, ihrem unzertrennlichen Begleiter.

„Onkel Nordheim ist glücklich über die Brücke gekommen, obgleich sie halb überschwemmt war,“ berichtete sie. „Die Ingenieure stürzten allesammt herbei und halfen den Wagen vorwärts bringen, und dann bildeten sie Spalier zu beiden Seiten und verbeugten sich, so tief.“

Sie ahmte in komischer Weise die Ehrfurchtsbezeigungen der Beamten nach, aber der Freiherr zuckte ärgerlich die Achseln.

„Recht gesinnungsstüchtige Leute, diese Herren! Da schimpfen sie über meinen Schwager und sagen ihm alles mögliche Schlimme nach, und sobald er in Sicht ist, bücken sie sich bis zur Erde. Da soll der Mann nicht hochmüthig werden!“

„Papa,“ sagte Erna, die an den Stuhl ihres Vaters getreten war und jetzt den Arm um seinen Hals legte, „ich glaube, der Onkel Nordheim mag mich nicht, er war so kühl und gemessen.“

„Das ist so seine Art,“ meinte Thurgau, sie an sich ziehend. „Aber an Dir, Du Wildfang, hat er freilich genug auszusetzen.“

„An Fräulein Erna?“ fragte Reinsfeld mit einer so erstaunten und entrüsteten Miene, als ob das mindestens eine Majestätsbeleidigung sei.

„Jawohl, sie soll durchaus ein Fräulein von Thurgau vorstellen; hat er mir doch früher schon einmal angeboten, sie in sein Haus zu nehmen, um sie mit seiner Alice zusammen von den Bonnen und Gouvernanten für die Gesellschaft dressiren zu lassen! Was sagst Du zu dem Vorschlage, Kind?“

„Ich will nicht zu dem Onkel, Papa,“ erklärte Erna trotzig. „Ich will überhaupt nicht fort von Dir, ich bleibe im Wolkensteiner Hofe, mein Leben lang.“

„Ich wußte es ja!“ rief der Freiherr triumphirend, „und da behaupten sie, Du würdest eines Tages heirathen, würdest davongehen mit einem wildfremden Menschen und Deinen Vater in seinem Alter allein lassen! Wir wissen es besser, gelt Erna? Wir zwei gehören zusammen und wir bleiben auch bei einander.“

Er streichelte die wilden Locken seines Kindes mit einer Zärtlichkeit, die bei dem derben rücksichtslosen Manne etwas Rührendes hatte, und Erna schmiegte sich mit leidenschaftlicher Innigkeit an ihn. Die beiden gehörten in der That zusammen, das sah man; eins hing an dem anderen mit ganzer Seele.




(Fortsetzung folgt.)
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