Seite:Die Gartenlaube (1888) 376.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)


habe ich dann zuweilen förmliche Visionen; ich sehe die Neuhäuser Wohnstube, sehe meine Kleine drinnen spielen, höre ihr Jauchzen und meine ordentlich den Geruch von Bratäpfeln zu spüren, die um diese Jahreszeit nie in der Röhre des Kachelofens fehlen.“ Er stockte einen Moment. – „Und da, da denke ich: mein Gott, wozu sitzest Du eigentlich hier in so trübseligen Gedanken? In einem solchen Moment stand ich vorgestern auf, holte meine Schreibmappe und schrieb, um Sie auf der Stelle zu fragen, ob –“

Sie fiel ihm fast heftig ins Wort.

„Weshalb fragen? Ich kann Sie nicht zwingen, Ihr Versprechen zu halten, habe auch wahrhaftig niemals verlangt, daß Sie nach Schloß ‚Stein‘ gehen sollten. Sie wußten ja sonst Berlin und Wien zu finden, oder Paris oder irgend eine große Stadt noch weiter entfernt.“

Er hatte sie ausreden lassen.

„Ich wollte Sie in dem Briefe fragen,“ sprach er ruhig weiter, „soll denn die Komödie noch kein Ende nehmen, Claudine? Es ist doch frevelhaft –“

Sie fuhr empor. Sprach er im Ernst?

„Das sagen Sie mir jetzt?“ rief sie empört, „jetzt, wo die Entscheidung so nahe? Die Arme lebt vielleicht keine vierundzwanzig Stunden mehr! Haben Sie es so eilig, Ihre Freiheit wieder zu erlangen?“

„Sie sind sehr verbittert, Claudine!“ erwiderte er unwillig, und doch klang es wie Mitleid aus seiner Stimme. „Aber Sie haben Recht; angesichts der traurigen Tage, denen wir entgegensehen, sollte man nicht von diesen Dingen sprechen; indessen –“

„Neiu, nein! Sprechen Sie nicht davon!“ pflichtete sie ihm aufathmend bei.

„Indessen ich kann nicht anders,“ fuhr er unerbittlich fort. „Das Neueste ist nämlich, daß Ihre Hoheit sich direkt an mich wandte.“ Er nahm seine Brieftasche heraus und reichte ihr ein Schreiben; „es ist besser, Sie lesen selbst.“

Claudine machte eine abwehrende Bewegung.

„Es ist ein eigenhändiges Schreiben der Herzogin,“ betonte er, ohne das Briefblatt zurückzuziehen; „die arme Frau verbittert sich ihre letzten Tage mit Sorgen. Wenn Sie gestatten, Kousine, lese ich es Ihnen vor.“

Und das blasse Mädchengesicht kaum mit dem Blicke streifend, begann er.

„Mein lieber Baron! Diese Zeilen schreibt Ihnen, nach langem innern Kampf, eine Sterbende und bittet Sie, ihr nach Möglichkeit in einer überaus zarten Angelegenheit zu helfen.

Sagen Sie mir die Wahrheit auf eine Frage, deren Indiskretion Sie mir, die ich bald nicht mehr unter den Lebenden sein werde, verzeihen wollen. Lieben Sie Ihre Kousine? Wenn es nur ein Akt der Klugheit und Großmuth war, ihre Hand zu erbitten, dann, Baron, geben Sie dem armen Mädchen die Freiheit zurück und seien Sie überzeugt, daß Sie dadurch die Zukunft zweier Menschen, die mir über alles theuer sind, glücklich gestalten werden.   Elisabeth.“

Die blauen Augen Claudinens starrten wie verzweifelt auf das kleine Briefblatt. Barmherziger Gott, was sollte das sein? War die Herzogin noch immer in dem alten schrecklicheu Wahn, daß ihr Gatte sie liebe oder sie ihn? Oder hatte Prinzeß Helene sich ihr anvertraut, und die Herzogin wollte vermitteln zwischen Lothar und ihr?

„Und Sie?“ klang es endlich gebrochen von ihren Lippen.

„Ich bin auf dem Wege, Ihrer Hoheit die Antwort zu bringen, Claudine. Sie wissen selbst, hoffe ich, daß es unnöthig war von der Herzogin, die Wahrheit zu fordern. Ich habe immer offen gehandelt während meines ganzen Lebens; nur einmal beging ich eine Täuschung, weil ich aus Zartgefühl nicht den Muth hatte zu sprechen, weil ich glaubte, ein einmal gegebenes Wort einlösen zu müssen, und sollte es auf Kosten meines Lebensglückes geschehen. Lassen wir das, es ist begraben. – Niemals haben mich seitdem irgend welche Rücksichten gehindert, der vollsten Ueberzeugung gemäß zu handeln. Ich werde Ihrer Hoheit kurz erklären, daß –“

Ein leiser Schrei unterbrach ihn; flehend streckte Claudine ihm die Hand entgegen und ihre Augen starrten angstvoll in die seinen.

„Schweigen Sie, ich bin nicht die Herzogin!“ stammelte sie.

Er hielt inne vor diesem verzweifelten Gebahren. Das Mädchen sprang empor und flüchtete nach der andern Seite des Coupés.

In diesem Augenblick huschten Laternen vor dem Fenster vorüber, der Zug fuhr langsamer; in der trüben Dämmerung des Schneemorgens erkannte der Baron den Bahnhof der Residenz; über der Stadt erhob sich grau die alte herzogliche Veste.

Claudine war ausgestiegen, ehe er hinzuspringen konnte, ihr behilflich zu sein. Ein fürstlicher Lakai erwartete sie und ein Hofwagen. Als sie eilig hineinschlüpfte, stand Lothar am Schlag. In dem grauen kalten Morgenlicht sah sein Gesicht ganz anders aus als vorher; es schien Claudine, als wäre er seit den paar Monaten um Jahre gealtert.

„Ich bitte, Kousine, nennen Sie mir die Stunde für eine Unterredung,“ forderte er mit höflicher Bestimmtheit.

„Morgen,“ erwiderte sie.

„Morgen erst?“

„Ja!“ entschied sie kurz.

Er trat, sich verbeugend, zurück, nahm wenige Minuten später Platz in einem Hôtelwagen und fuhr mit dem schwerfälligen Omnibus durch das Süderthor, welches eben der fürstliche Wagen mit Claudine in Windeseile passirt hatte.

„Wie,“ dachte er, durch ihr sonderbares Benehmen geängstigt, „wenn die Herzogin dennoch Recht hätte, wenn sie den Herzog wirklich liebte? Wenn ich selbst ihr gleichgültig wäre, wirklich gleichgültig?“

Er hatte sich immer soviel darauf eingebildet, die Frauen zu verstehen; er glaubte Claudine ganz zu kennen – heute zum ersten Male kamen ihm ernstliche Zweifel.

{{{{PRZU}}}}

(Fortsetzung folgt.)




Jagdleben im Hochland.
Geschildert von Ludwig Ganghofer.       Mit Originalzeichnungen von O. Recknagel.
3. Sommerhirsch

Ueber den weiten Bergen liegt noch der Winter mit seiner ganzen eisigen Starrheit. Im Thal aber ist seit Wochen kein „Neu“ mehr gefallen. Nun bringt der späte März den ersten Regen; dünn und langsam rieselt er nieder aus dem trägen hohen Gewölk; gegen den Schnee der Berge ist er machtlos, aber bei der berußten Winterdecke der Dächer und bei dem zerlegenen, von Pfaden und Geleisen durchrissenen Schnee der Thalgehänge weiß er sich schon ein wenig in Respekt zu setzen. Wie mit Nadeln bohrt er sich ein in die glatte, gefrorene Kruste, gleichsam als Vorkämpfer der Sonnenstrahlen, die in den folgenden lauen Tagen die von ihm gewaschenen Grübchen und Rinnen mehr und mehr vertiefen und erweitern, bis die Dächer erlöst sind von ihrer drückenden Last, bis durch die rund in den Schnee gesengten Gucklöcher die wintersmüde Erde Ausschau halten kann nach dem nahenden Frühling. Von Stunde zu Stunde erweitern sich nun die „aaberen“ Flecke auf den sonnseitigen Gehängen; ein unablässiges Triefen und Rieseln geht von aller Höhe zum Grunde, die Bäche und Bächlein schwellen und steigern ihr Rauschen und allmählich zieht sich der Schnee zurück bis in das Dunkel des steil ansteigenden Bergwaldes. Doch hier auch schütteln schon die Tannen, müde des langen Tragens und Duldens, die weiße Kappe von den schlanken, hohen Wipfeln, und in schweren Klumpen klatscht der Schnee von den niedergedrückten Aesten, die sich, so jählings von ihrem Drucke befreit, wie unter einem erleichternden Athemzuge hastig in die Höhe richten.

Mehr und mehr durchbricht das dunkle Grün des Tannenwaldes die weiße Hülle der Berge; von Zeit zu Zeit durchfahren laue Windstöße das Thal - die Sendboten des Föhns, des

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 376. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_376.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2016)