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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

wieder, weshalb nahm er nicht ihren Kopf plötzlich zwischen seine Hände und küßte sie; weshalb erklärte er sich, nicht, da er doch wußte, daß sie ihn liebte, wissen mußte, daß ein Mädchen nicht thun konnte, was seine Sache war? Empfand er nur warme Freundschaft für sie? Liebte er sie nicht so stark, um sein Leben an das ihre zu knüpfen? Diese quälenden Fragen legte sich Inesilla unzählige Male vor, zweifelte, bangte, grämte sich und beantwortete sich doch die große Frage schließlich zu ihren Gunsten.

Das Räthsel dieses Benehmens von seiten des jungen Studenten war sehr einfach zu lösen. Inesilla gefiel ihm in ihrem Wissenseifer außerordentlich, er fand ihr blühendes, gutherziges, geistvolles Gesicht schön, er liebte sie wahrhaft; doch wie durfte er, ein bettelarmer Student, sich Hoffnung auf das reichste Mädchen der Stadt machen? Der Vater würde sie ihm niemals geben! Auf was hin sollte er sie heirathen, was konnte er ihr bieten? Es wäre gewissenlos und frech von ihm gewesen, ein Liebesverhältniß mit dem Mädchen einzugehen, und er machte sich die schwersten Vorwürfe, daß er zu den Rendezvous im Parke ging.

Er nahm sich täglich vor, an ihrem Laden nicht mehr vorbeizugehen, das Mädchen zu meiden, sich zu verbergen vor ihr – und nach wie vor spazierte er am Geschäftslokal vorbei, nach wie vor warf er sehnsüchtig feurige Blicke zu ihr hinein, täglich kam er in den Park zu der bekannten Stelle. Seine Liebe wuchs im gleichen Maße mit seinen Gewissensbissen. Der Verstand kämpfte vergeblich mit dem Herzen, und hatte früher der Hunger an seinem Leibe gezehrt, so nagte setzt an ihm und brachte ihn körperlich noch tiefer herab – der Zwiespalt seiner Seele.

Plötzlich schien der Student spurlos verschwunden; er kam nicht mehr zu den Unterrichtsstunden im Park und ging auch nicht mehr am Laden vorbei – nirgends sah man ihn.

(Schluß folgt.)



Was uns der Büchertisch erzählt.

So wenig die Lieder im deutschen Dichterwalde je verstummen, so wenig erlahmt auch die Lust am Fabuliren, und in immer neuen Verwickelungen, in immer neuer Beleuchtung führen unsere Erzähler uns das Menschenleben vor – nicht bloß das Leben der Gegenwart, sondern auch dasjenige vergangener Zeiten. Und die Eigenart der Dichter selbst giebt ihren Schöpfungen stets den Reiz der Neuheit.

Auch viele unserer Poeten, die sich der gebundenen Rede bisher mit Erfolg bedienten, haben sich jetzt dem Roman zugewendet, darunter Wilhelm Jordan, der Dichter der „Nibelungen“, die er selbst als vorzüglicher Rhetor diesseit und jenseit des Oceans mit großem Zulauf und Beifall vorgetragen hat. Aus der sagenhaften Welt der Chriemhild und Brunhild, des Siegfried und Hagen ist er jetzt ganz in unser modernes Leben übergesiedelt und hat zwei Romane geschrieben, von denen der letzte, „Zwei Wiegen“ (2 Bde., Berlin, Grotesche Verlagsbuchhandlung), als ein ganz eigenartiges Werk betrachtet werden muß. Es ist keine jener leichtflüssigen Erzählungen, deren Strom das Schiff der Handlung mit vollen Segeln trägt: es sind da allerlei schwerwiegende Gedanken, welche theils der Erfindung zu Grunde liegen, theils in selbständigen Auseinandersetzungen sich breit einschieben in die Geschichte der menschlichen Schicksale, deren Verlauf die Spannung der Leser erregt. Wilhelm Jordan gehört nicht zu den Schöngeistern gewöhnlichen Schlags; er hat von Jugend auf eine tüchtige philosophische Bildung genossen, er war Politiker und Naturforscher, ist in sehr vielen Sätteln gerecht – und die Breite des Romans giebt ihm bequeme Gelegenheit, das alles, was er studirt und erfahren, in seinen Kapiteln abzulagern. Seine Darstellungsweise hat auch in den Versdichtungen etwas Wuchtiges und Schweres; das Streben, der Sprache das Gesetz zu diktiren und neue Wörter zu bilden, denen er das Gepräge seiner Eigenthümlichkeit ausdrückt, tritt auch in den Romanen unverkennbar hervor.

„Zwei Wiegen“ behandelt die Frage von der Erbschaft des Blutes, von jenem dem Menschen angeborenen Verhängniß. Da stehn zwei Geschlechter in schroffem Gegensatze, die Lelands stammen aus einer Glückswiege. Ein Ahnherr, ein Offizier des Großen Kurfürsten, war in schwedische Gefangenschaft gerathen, wurde aber aus Karlskrona mit Hilfe der Tochter des Kommandanten befreit und floh mit ihr über die Ostsee nach Memel. Das Holz des kleinen Segelboots, auf dem sie flüchteten, soll von einer heiligen Eiche stammen; aus diesem Holze ließ sich das glückliche Ehepaar die Wiege bauen. Die andere Familie, die Schönborns, wollte von einem Edelmann stammen, der ins heilige Land gereist, eine Urkunde im Kloster Oliva berichtete, wie derselbe im Schatten einer uralten Ceder auf dem Libanon gewohnt, in der Klause eines gelehrten Eremiten, welcher aus dem Samen der Riesenceder sich eine Baumschule junger Bäume zog.

Einen dieser Sprößlinge kaufte der Reisende nebst einem auf Pergament geschriebenen Spruch in gereimten lateinischen Versen, in denen ungefähr gesagt wurde, daß dieser Baum, wenn gepflanzt und großgepflegt im eignen Grund und Boden, das Gedeihen der Familie sichern werde und nicht nur, so lange er lebendig wachse, sondern sogar noch nach seinem Absterben, wenn dann sein Holz verwendet würde zu einer mit dem Kreuze geschmückten Wiege. Als Jürgen Schönborn verstorben, der schwächlich und verwachsen wie sein Bruder Jobs und seine häßliche einäugige Schwester Ulrike war, sollte das Gut Schönborn verkauft werden. Jürgens Sohn Leberecht konnte es später nicht behaupten. Bruder Jobs heirathete die Tochter eines Rechtsanwalts; sein körperliches Gebrechen erbte sich aus eine Tochter Jobaea fort, ein kluges frohsinniges Mädchen, aber häßlich und verkümmert, später durch ungeschickte Behandlung des Orthopäden körperlich fast gänzlich zu Grunde gerichtet. Das ist die Leidensgeschichte derer aus der Cedernwiege; aus der Eichenwiege aber ist ein herrlicher Sproß erstanden, Loris Leland, ein schöner kräftiger Jüngling, der eigentliche Held des Romans. Seine Liebe zu der schönen Müllerstocher, deren herzlose Eitelkeit er allmählich kennen lernt, sowie seine Werbung um die anmuthige Lenore, die ihm gegenüber als kleines Mädchen tapfer ein seltsames Abenteuer bestanden und die Erinnerung daran im Herzen trägt, bilden den Hauptinhalt des Romans, soweit es die Herzensgeschichte des Helden betrifft.

Es sind aber außerdem allerlei höchst merkwürdige Dinge darin; wir sprechen nicht von den Abhandlungen über Astronomie und Darwinismus und Erziehungskunst, von welcher letzteren uns eine ganz absonderliche Probe gegeben wird in der Menschendressur, welche der Hüne Liebherr in seiner Archenburg ausübt; wir sprechen besonders von den aufs ausführlichste erzählten Vorbereitungen zur Wasserfahrt der kranken Jobaea, deren Körper keine Erschütterung verträgt, und welche durch Loris auf dem Wasserwege den Ihrigen wieder zugeführt wird. Hier bereitet sich der Verfasser als ehemaliger Marinerath ein besonderes Fest: an diesen Detailschilderungen der Wasserstauungen, der Bach- und Seefahrt könnte mancher Wasserbauingenieur seine Freude haben.

Daß die Erbschaft des Blutes zum Verhängniß für die Einzelnen wird, ist allerdings der Grundgedanke des Romans, aber er zeigt auch, wie der menschliche Geist durch sein freies Streben jene Schranke zu überwinden vermag. Nikolaus Bajör, des Müllers Sohn, der verstoßene Krüppel, der stets mit seinen Raben erscheint, wird durch die Beihilfe von Loris ein hervorragender Künstler und die unglückliche nicht minder krüppelhafte Jobaea findet in ihrer für alles Schöne und Große empfänglichen Seele reichen Ersatz für körperliche Mißgestalt und versagte Lebensfreude.

Diese Jobaea ist übrigens ganz nach dem Leben gezeichnet. Von Königsberg aus besuchten Jordan und ich als junge Akademiker ein Fräulein Rosalie Schoenfließ in Insterburg, deren litterarischer Nachlaß später veröffentlicht wurde: sie ist das Modell, welches dem Dichter bei seiner Jobaea vorgeschwebt und dessen Züge er treu in der Erinnerung bewahrt hat.

Paul Lindau giebt in seinem „Berlin“ (Berlin u. Stuttgart, Spemann) Studien aus dem Leben der deutschen Reichshauptstadt. Dem ersten Roman „Der Zug nach dem Westen“ folgte der zweite „Arme Mädchen“. Beide sprechen für das Talent des Autors, anschaulich zu schildern, die Vorgänge gefällig darzustellen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 336. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_336.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)