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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

scherzhaft hingeworfenes Wort ihres Vaters sie sofort, beinahe ängstlich, ihr Gesicht zu betrachten und zu untersuchen, ob an der Aeußerung ihres Vaters etwas Wahres sei und die Sonne sie wirklich roth brannte; sie glättete sich sogar ein Fältchen auf der Stirn mit einem Falzbein und suchte die starken Lippen ihres Mundes durch eine besondere Muskelbewegung einzuziehen.

Das hat bei einem Mädchen von der Art Inesillas etwas zu bedeuten, und wirklich: es hatte sich etwas Merkwürdiges ereignet.

Seit zwei Monaten wünschte sie schön zu sein, gerade von dem Zeitpunkt an, da sie eine so plötzliche Leidenschaft für das Promeniren faßte.

Wie ein Blitz hatte es nämlich in ihr Herz eingeschlagen, als sie bei einem Gang durch den Park an einem armen Studenten vorüberkam, der dort einsam auf einer der Steinbänke saß.

Das schwarze Barett auf dem Kopfe, umflossen von dem langen schwarzen Talar, neigte er sich über ein Buch in seiner Hand. Er sah bleich und trübe, mager und eingefallen aus; seine Hände zitterten, er athmete schwer – aber schön war er, wie die Tochter Lorenzos noch nie einen Menschen gesehen! Das scharfe, edelgeschnittene Gesicht mit der durchsichtig blassen Farbe, die dunkeln Augenbrauen, der feine volle Mund, alles war vom schönsten Ebenmaß – und als er jetzt aufsah mit dunkeltiefen, braunen Augen, stockte Inesilla der Athem; sie konnte keinen Schritt weiter; es war ihr, als seien ihre Füße in den Boden gewurzelt; sie wollte fliehen, davonstürzen und konnte es nicht. Ihr Herz hatte, so schien es ihr, mit einem Male zu schlagen aufgehört; das alles dauerte freilich nur einige Sekunden; doch Inesilla kamen sie wie eine selig schreckliche Ewigkeit vor. Sie fühlte, daß sie purpurroth wurde – nun hatte sie auch über ihre Füße wieder Gewalt. Sie verneigte sich wie entschuldigend vor dem armen Menschen, der dort auf der Bank saß, und ging erst langsam, dann schnell wie in eiliger Flucht nach Hause.

Der Student war nach ihrem Weggange von seinem Sitz aufgestanden und hatte ihr einen Moment erstaunt und neugierig nachgesehen; dann sank er mit einem tiefen Seufzer aus die Bank zurück, noch bleicher als zuvor, und preßte die Hände auf seinen Magen, denn er fühlte sich fast ohnmächtig vor Hunger.

Es giebt in ganz Spanien, besonders aber in Salamanca, fast nur arme Studenten; diese rekrutiren sich meist aus den Kreisen schlechtgestellter Beamten oder gänzlich verarmter Adeliger. Sie gehen oft zur Universität, ohne mehr zu besitzen, als ein kleines Felleisen mit Wäsche, und sind dann der Mildthätigkeit und Gutherzigkeit der Bürger und Bürgerinnen der Stadt überlassen; oft erbetteln sie, so zu sagen, abends vor den Häusern singend und Guitarre spielend die paar Realen, welche sie vor dem Verhungern schützen, oder gewinnen sich durch Protektion Freitisch bei begüterten Familien oder in geistlichen Kollegien. Den Theologen geht es noch leidlich; denn diese kommen meist in Stiften unter; am übelsten sind die armen Philologen dran, wenn sie keine Gönner haben. Und das war leider der Fall von Pablo Verros, dessen Bekanntschaft wir eben im Parke gemacht haben.

Seit einem halben Jahre studirte der zwanzigjährige junge Mann Rhetorik und Dichtkunst, wie es in Spanien heißt; er war fleißig und begabt, seine lateinischen Verse wurden bewundert, und er war der beste Virgilübersetzer im Colegio del Rey; doch die Magenfrage überwog bei ihm schließlich die Frage nach den Wissenschaften, und wenn dem alten lateinischen Spruch zufolge ein voller Magen nicht gern studirt, wird wiederum ein Mensch, der nicht gefrühstückt hat, nicht weiß, wo er zu Mittag essen und zum Abendimbiß an Stück Brot hernehmen soll, und dem es wochenlang so geht, noch weniger gern studiren; er wird bald Tag und Nacht nur darauf sinnen, auf welche Weise er seinen Hunger stillen kann.

So ging es Pablo Verros.

Wohl war er schön und vieler Frauen und Mädchen Blicke streiften ihn mit einer Theilnahme, die besagte: dir würden wir gern helfen, du schöner Bursch! Freundlich kamen ihm die Bürger entgegen und wenn er sich bemüht, hätte er sicher auch Gönner gefunden.

Pablo Verros jedoch verstand es nicht, sich solche zu verschaffen; er beachtete die Blicke der Frauen nicht und war so schüchtern, daß er heftig erröthete und sofort die Augen niederschlug, sobald ein Mädchen ihn ansah.

Heute hatte er seltsamerweise in die Augen eines Mädchens geschaut, lange sogar – aber nicht infolge eines Gefühls, das aus dem Herzen stammte, sondern halb stumpf und geistesabwesend vor Hunger. Trotzdem hatte sich seltsamerweise seiner Phantasie das Bild dieser Frauenerscheinung eingeprägt, wie sie dastand, den Blick voll unsäglichen Mitleides und Bewunderung – sie hatte ihn sogar gegrüßt … Kannte sie ihn denn? Er erinnerte sich nicht, sie je gesehen zu haben … Weshalb betrachtete sie ihn so? Gewiß, weil er so elend aussah! Ja, in ihren Blicken lag so viel Theilnahme … aber auch noch etwas anderes sprachen ihre Augen … und Pablo Verros sann lange noch auf seiner Bank sitzend nach und kaute und sog an frischen Ulmenblättern, ein von ihm oftmals erprobtes Mittel, den bittersten Hunger zu betäuben.

Als Inesilla von diesem verhängnisvollen Spaziergang nach Hause kam, warf sie sich auf das Bett – ein solches dient in Spanien am Tage als Sofa – und weinte aus voller Seele, aus Mitleid mit dem armen Menschen; denn daß er bitterarm sein mußte, das sah sie an seinem verhungerten Gesicht, an seinen zitternden Händen, an seiner abgeschabten Kleidung, an seinen zerrissenen Schuhen. Dann aber weinte sie auch, weil dieser Mensch so schön war, daß er ihr das Herz mit schmerzlicher Gewalt gepackt hatte, mit einer Macht, die sie hinzog zu jenem ihr bisher ganz Fremden, sich ihm an den Hals zu werfen, ihn heiß zu küssen und, wenn es sein müßte, seine Armuth mit ihm zu theilen.

Es war dies ein schreckliches Gefühl. Sie, eine gut erzogene Tochter, die so vernünftig war und so ruhig über alle Männer dachte, traf die Erscheinung dieses armen Studenten wie ein Blitz; sein Anblick zerschmetterte ihren Gleichmuth und ihre Ruhe und erfüllte sie mit einer ihr ganz unbekannten Leidenschaft.

War er ein Zauberer, hatte er überirdische Mittel an der Hand, Mädchen zu verwirren, zu bethören, sich zu eigen zu machen? Sie hatte ihn so nur einen Augenblick gesehen! Stand er mit dem Bösen im Bunde, der ihm diese Macht verliehen? Aber ein Zauberer hungert nicht und diesem Manne lag der Hunger auf dem Gesicht – und welcher Schmerz, welcher tiefe Gram in seinen schönen Auge, das ihr diesen Brand in die Seele geworfen!

Inesilla hörte plötzlich zu weinen auf.

Warum sollte sie nicht lieben, fragte sie sich, und weshalb nicht einen armen Studenten? War denn das etwas Schreckliches, überlegte sie weiter, mußte denn ihr zukünftiger Mann durchaus ein Gutsbesitzer, ein Fabrikant und reich sein? Hatte sie nicht selbst viel Vermögen und das Recht, sich einen Mann zu wählen, warum durfte das kein Student sein? Werden diese nicht geachtete, ja oft sogar berühmte Männer, Aerzte, Advokaten, Professoren, Minister selbst? Weshalb sollte es ein Unglück sein, einen Studenten zu lieben, und aus welchem Grunde „heulte sie so darüber,“ sagte sich Inesilla mit ihrem wiederkehrenden Humor, „in einen Studenten sich sterblich verliebt zu haben?“ Ihr Vater würde freilich große Augen machen, wenn sie ihm das entdeckte, und es dürfte einen heißen Kampf absetzen; aber schließlich würde sie doch siegen – das traute sie sich zu, das wußte sie … plötzlich verdüsterte sich ihr Gesicht; sie sprang auf vom Bette und eilte zum Spiegel, sah dort hinein und warf ihn wieder fort.

„Wird er mich denn wollen?“ rief sie fast laut aus. „Ich bin häßlich; wird ein so feiner, schöner Mensch mich nehmen mit dem rothen dicken Gesicht und den großen ausdruckslosen Augen und den rothen Haaren?“ Und jetzt eilte Inesilla zum großen Wandspiegel, setzte sich davor, betrachtete sich eingehend und lange, band ihr Haar auf und versuchte sofort eine neue Frisur. „Man kann nicht wissen,“ murmelte sie dabei, „ich habe etwas Eigenes. Man sagt, daß die Gegensätze sich anziehen; vielleicht liebt gerade der Schöne mich, wie ich, die Unschöne, ihn – die Natur soll ja ungeheuer weise sein, hat der französische Gelehrte einst im Laden mir erklärt, sie soll die Gegensätze auszugleichen sich bestreben. Vielleicht ist es eine solche ungeheure Weisheit der Natur, daß wir uns beide haben sollen. Ich will sie darauf hin jetzt prüfen,“ schloß Inesilla ihren stillen Monolog, machte sich die neue schöne Frisur fertig, verschaffte sich eine ältere Freundin, studirte von nun an ihr Gesicht noch eifriger in dem Spiegel und machte fleißig Spaziergänge nach den Wällen und besonders nach dem Park hin.

Schon am dritten Tage nach der ersten Begegnung traf sie Pablo auf derselben Bank unter den Ulmen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 334. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_334.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)