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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

„Gestatten Hoheit, daß ich mich zurückziehe,“ stammelte Claudine zu der Herzogin gewendet, „meine heftigen Kopfschmerzen –“

Einen Augenblick regte es sich in dem Herzen der unglücklichen Frau wie Mitleid mit dem Mädchen, dessen geisterhaft blasse Züge eine furchtbare Gemüthserregung verriethen.

„Nein!“ erwiderte sie flüsternd, denn eben kam Se. Hoheit herüber. „Ich selbst bin krank und kämpfe – kommen auch Sie –“

Claudine schritt mit den Andern den Korridor hinab und trat neben Lothar hinter den Herrschaften in den Empfangssalon. Die Hoheiten begrüßten ihre Gäste, der Erbprinz nahm Glückwünsche entgegen, dann öffneten sich die Thüren zum Speisesaal. Claudine fand ihren Platz Lothar gegenüber. Sie hatte keine klare Vorstellung, wie das Diner vorüberging; sie antwortete wohl auf die Fragen ihres Nachbarn; sie aß, sie trank, aber es war wie im Traume, völlig automatenhaft; Prinzeß Helene, neben Baron Lothar, sprach auffallend hastig und saß dann wieder stumm; zuweilen schauten ihre schwarzen funkelnden Augen zu Claudine hinüber, während sie mit dem Dessertlöffelchen spielte. Und wenn die seltsam abwesenden Blicke Claudinens sie trafen, so ward sie roth und fiel in ihre gezwungene Lebhaftigkeit zurück.

Und wie es kam – wer mag es ergründen? es schwebte in der Luft, es perlte in den Champagnerkelchen; es sagten sich’s Blicke und Mienen ohne Worte, ein Jeder an der schimmernden Tafel wußte es: dort oben in den fürstlichen Gemächern war etwas vorgefallen, die Herzogin-Mutter war gekommen, um dazwischen zu fahren. Mit dieser idealen Freundschaft hatte es ein Ende, die schöne Gerold saß dort zum letzten Male.

Es lag wie lähmend auf allen diesen anscheinend so fröhlich plaudernden Menschen, gleich einem Gewitter, dessen Ausbruch jeder herbeisehnt und doch fürchtet. Se. Hoheit schien merkwürdig gereizt; kein Wunder – die Herzogin sah, ganz gegen ihre Gewohnheit, roth aus; sie fuhr sich oft mit dem Tuch über die Stirn und trank eisgekühltes Wasser.

Endlich, endlich erhob sich die Herzogin; die Tafel war zu Ende und im anstoßenden Salon ward der Kaffee präsentirt.

„Ihre Hoheit hat sich zurückgezogen und wünscht Sie zu sprechen,“ flüsterte Frau von Katzenstein Claudine zu.

Das Mädchen flog die Stufen empor und den Korridor entlang. Nur Gewißheit wollte sie – was hatte sie denn gethan, verbrochen? Und doch verfolgte sie schon eine entsetzliche Ahnung.

Die Herzogin saß auf ihrer Chaiselongue den Kopf gegen die Lehne gestützt.

„Ich will Dich fragen,‟ begann sie mit verzerrtem Gesicht – dann schrie sie auf. „Jesus – ich – Claudine!“ und ein Blutstrom ergoß sich aus ihrem Munde.

Das junge Mädchen hielt sie in ihren Armen; sie zitterte nicht, sie sprach kein Wort, während die Kammerfrau fortstürzte, um Hilfe zu holen. Der Kopf der Herzogin lag an ihrer Brust, sie war völlig bewußtlos.

In der nächsten Minute erschien der Arzt, der Herzog und die alte Herzogin. Die Kranke wurde aufs Bett getragen; die ganze fieberhafte leise Thätigkeit begann, wie in solchen Fällen zu geschehen pflegt. Claudine mit ihrem vor Schreck entstellten Gesicht, mit ihrem blutbefleckten Kleide stand unbeachtet dort; so oft sie auch die Hand ausstreckte zu helfen, niemand beachtete es, niemand schien es zu bemerken.

„Ist irgend etwas geschehen, was Ihre Hoheit beunruhigte?“ fragte der Arzt.

Der Herzog wies auf Claudine. „Fräulein von Gerold, Sie waren zuletzt bei ihr; wissen Sie –“

„Ich ahne es nicht,“ antwortete sie.

In diesem Augenblick traf der Blick der alten Herzogin das Mädchen, streng und feindlich. Sie hielt ihn aus, diesen Blick; sie senkte nicht schuldbewußt das Haupt. „Ich weiß nichts!“ wiederholte sie noch einmal.

Dort unten begann das Konzert. Der Herzog verließ hastig das Krankenzimmer, um den Fortgang des Konzertes zu verbieten – da stand er Prinzeß Helene gegenüber. Sie war noch athemlos vor raschem Lauf; sie war im Garten gewesen, als man ihr die Schreckenskunde zuraunte. Ihre angstvollen Augen sprachen deutlicher, als Worte es vermochten.

„Hoheit,“ sagte der Arzt, der dem Herzog gefolgt war, „es wäre besser, nach H. zu telegraphiren an Professor Thalheim; Ihre Hoheit sind sehr schwach.“

Der Herzog sah ihn groß an; er war bleich geworden.

„Nicht sterben! Um Gotteswillen nicht!“ flüsterte Prinzeß Helene, „nur das nicht!“

Und entsetzt wich sie zurück, als Claudine heraustrat mit blutbeflecktem Kleide.

In ihrem Zimmer traf Claudine Beate.

„Herr Gott, wie schrecklich!“ rief das resolute Mädchen; „paß auf, Schatz, nun ist unser Fest schuld daran.“

„Ach nein“ sagte das Mädchen leise beim Ablegen der Kleider.

„Aengstige Dich nicht so, Claudine; Du siehst ja entsetzlich aus! Dort unten“ fuhr Beate fort, „stiebt alles aus einander. Ich habe die Kinderfrau mit Leonie und Elisabeth tiefer in den Park hineingeschickt. Hier vorn stehen nur noch einige Gruppen, die natürlich erörtern wollen: wieso? woher? – Die Prinzen sind in ihrem Zimmer, der Erbprinz weint zum Gotterbarmen. Wer hätte das auch gedacht!“

„Willst Du so freundlich sein und mich in Deinem Wagen mitnehmen?“ fragte Claudine.

Beate, die ihren Hut vor dem Spiegel aufsetzte, wandte sich hastig um. „Du willst doch jetzt nicht fort, Claudine? Das kannst Du nicht!“

„Doch, ich kann, ich will –“

„Ihre Hoheit wünscht Fräulein von Gerold zu sprechen,“ flüsterte die Kammerfrau durch die Thür.

„Nun, siehst Du, Claudine, Du kannst nicht fort,“ sagte Beate mit unverkennbarer Genugthuung und band die blaßgelbe Schleife ihres Hutes.

In der Krankenstube war es still und dunkel; man hatte alle entfernt; nur im Vorzimmer ging der Herzog mit unhörbaren Schritten auf und ab. Claudine saß auf einem Stuhl zu Füßen des Lagers, wohin eine Handbewegung der Kranken sie gewiesen; mit schwachem Flüstern hatte dieselbe sie gebeten, hier zu bleiben, weil sie etwas Wichtiges mit ihr zu besprechen habe.

Unten in dem Zimmer des Erbprinzen hockte Prinzeß Helene neben dem schlanken Jungen auf dem Teppich; sie weinte nicht, sie hatte nur die Hände gefaltet, als ob sie bete oder jemand um Verzeihung bitten wollte. Prinzeß Thekla befand sich in den Gemächern der Herzogin-Mutter. Die alte Dame saß völlig erschüttert in einem der tiefen Lehnsessel, die noch das Geroldsche Wappen trugen; sie hörte kaum auf das, was Ihre Durchlaucht mit leiser Stimme vortrug; sie war entsetzt, in welchem Zustande sie „die Liesel“ gefunden.

„Ja, derartige Gemütsbewegungen –“ seufzte die alte Prinzessin „es ist auch kaum zu fassen; sie ist eine Intrigantin, diese sanfte Claudine.“

„Meine liebe Kousine,“ erwiderte die greise Herzogin; „es ist eine alte Erfahrung, den Mann trifft stets die größere Hälfte der Schuld in solchen Fällen – vergessen wir das nicht, bitte!“

„Aber warum duldet man sie noch länger hier?“ ereiferte sich die durch diese Antwort gereizte Prinzessin, deren gelblicher Teint noch um eine Schattirung dunkler ward.

„Wollen Sie sich gefälligst erinnern, daß Se. Hoheit hier allein befiehlt, ma chére?“

„Allerdings – Pardon – aber es ist sonderbar, wenn man denkt –“

„Ja – aber es giebt Fälle, wo man besser thut, man denkt nicht, Kousine,“ klang seufzend die Antwort.

„Baron Gerold bittet um die Gnade, Ihre Hoheit in einer wichtigen Angelegenheit sprechen zu dürfen,“ meldete Fräulein von Böhlen.

Die alte Hoheit bejahte augenblicklich. Im nächsten Augenblick bereits stand Lothar im Gemach. Prinzeß Thekla lächelte ihm liebenswürdig zu und erhob sich. „Eine geheime Audienz? Gestatten Hoheit?“

„Es würde Ew. Durchlaucht Gegenwart in keiner Weise hinderlich sein, meine Bitte zu Füßen Ihrer Hoheit zu legen; um so weniger, als Durchlaucht sicher ein gewisses Interesse an diesem meinem Anliegen nehmen werden.“

Die alte Hoheit warf einen forschenden Blick unter ihrem Blondenhäubchen hervor. „Sprechen Sie, Gerold,“ sagte sie.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_312.jpg&oldid=- (Version vom 24.7.2016)