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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)


„Heim“ ins Auge gefaßt – wird eine Anzahl kurbedürftiger Gymnasiasten, deren Mittel es nicht gestatten, im Sommer Erholung aus dem Lande zu suchen, untergebracht und vollständig in Pflege genommen werden. Die österreichische „Alpine Montan-Gesellschaft“, eine in den steirischen Alpen reichbegüterte industrielle Bergwerksunternehmung, hat der jungen Institution auch bereits in dem romantisch gelegenen Alpendörfchen Wildalpen für diesen edlen Zweck ein Haus zum Geschenk gemacht, das schon in den heurigen Sommerserien von einer bestimmten Anzahl erholungsbedürftiger unbemittelter Gymnasialschüler unter Aufsicht eines Pädagogen bezogen werden wird.

Hoffentlich wird dieser von echt humanem Geiste erfüllte Gedanke recht bald so viele Förderer gewinnen, daß schon in den nächsten Jahren eine immer größere Zahl leidender oder schwächlicher Studenten in diesen „Ferienheims“ Aufnahme finden kann.




Deutsches Unglück – deutsche Hilfe!

Der Kampf mit den Elementen ist ein Kriegszustand, und wie in diesem nicht bloß der Landstrich der Grenze, wo der Feind einbricht, die Vertheidigung fährt und die Last und Noth des Kampfes trägt, sondern der gesammte Staat mit seiner Kraft und Hilfe bereit steht – ebenso ist es im heutigen deutschen Reich der Fall beim Kampf gegen die zerstörenden Elemente: die Zeit des Bettelns um Wohlthätigkeit ist vorüber; im neuen Reiche ist für jedes deutsche Unglück – deutsche Hilfe aller Deutschen Pflicht!

Auf diesem Standpunkt der patriotischen Anschauung solcher Ereignisse stehen sicherlich alle Leser der „Gartenlaube“; sie haben diese höhere Anschauung öffentlicher Opferthätigkeit schon bewährt, ehe wir des öffentlichen deutschen Lebens froh sein konnten, und um so freudiger folgen sie ihr heute, wo nach schwerem gemeinsamen Kampf so Großes errungen ist, was das deutsche Herz erhebt und den einfachsten Mann im Volke mit dem Stolz erfüllt, ein Deutscher zu sein.

Dieser Stolz im Glück muß im Unglück erst recht seine Kraft bewähren, und er wird es thun, je mehr denn je zuvor.

Ein furchtbares Ereigniß aber ist es, das weite volkreiche Landstrecken unserer nördlichen Stromgebiete binnen wenigen Tagen und Nächten durch Ueberfluthung in Wasserwüsten verwandelt, Hab und Gut von Millionen Werth vernichtet und tausende von Menschen in augenblicklich wahrhaft entsetzliches Elend gebracht hat.

Elbe, Oder und Weichsel, drei Ströme, deren Anwohnerschaft sich gegen die Ueberschwemmungsgefahren derselben allezeit durch die schützenden Deiche und Dämme gesichert wußte, waren durch den überlangen und strengen Winter in den alten gewohnten Verhältnissen von Eis- und Wogenstärke beim Frühlingseisgang gestört, da, wo man seit Menschengedenken in den weiten Niederungen voll blühender Ortschaften, wenn der Thauwind durch das Land brauste, auf die Festigkeit der Stromufer vertrauend, ruhig schlafen konnte, weckte jetzt Kanonendonner und Sturmglockenläuten die Schläfer, als die Hochfluth die Dämme erschütterte oder sie gar schon durchbrochen hatte. Unmenschliches ist da erlebt worden im Arbeiten und Wagen, im Dulden und Ertragen – die Reihe der Schreckens- und Leidensbilder in den drei Stromgebieten malt keine Kunst aus, aber stehen bleiben sie im Gedächtniß von Geschlechtern, und den Bildern der Noth stellen in gleicher Zahl und Größe sich die Bilder des Edelmuthes, der Heldenthaten der Menschenliebe entgegen und erheben das Ganze zu einem bewunderndswerthen Spiegelbilde der deutschen Volksseele.

Diese Fluth trat überall sofort mit ihrer schreckensvollsten Gewalt auf. Wo wir ein Blatt mit einer solchen Schilderung finden, lesen wir’s mit zitterndem Herzen. Da liegt eine „Rostocker Zeitung“ vom 29. März vor mir mit einer Karte des Ueberschwemmungsgebiets von Dömitz und Boizenburg. Welche Summe von Elend umfassen da nur wenige Zeilen! Am Abend des 21. brachen die Elbdeiche bei Damnatz. In Hitzacker bei der Kirche konnte man hören, wie die Wassermassen sich landeinwärts drängten, den Bahnhof und auch die Stadt Dannenberg überflutheten und sich unter lautem Brüllen immer weiter wälzten bis Lüchow. Die Entfernung von Dannenberg bis Lüchow beträgt gut vier Meilen und sämmtliche zwischen beiden Orten liegende Dörfer stehen bis unter das Dach im Wasser. Beherzte Schiffer, die gewohnt sind, mit den Elementen zu ringen, suchten die Bedrängten mit Lebensmitteln zu versorgen. Es spottet jeder Beschreibung, in welchem Zustande die armen Menschen vorgefunden worden sind. Eine alte Frau wurde oben vom Heuboden heruntergeholt, während ihr Sohn in einer niedrigeren Kammer ertrunken war. Eine Frau ist mit ihrem kleinen Kinde auf einen Baum geklettert, mit der einen Hand hält sie sich fest, mit dem andern Arm hält sie ihr Kind umfaßt. Da naht Hilfe, aber der Arm erlahmt und das Kind ertrinkt, ehe die Hilfe zur Stelle ist. Im Dorfe Nebenstädt haben sich elf Personen an Flügeln und Kopf der Windmühle angeklammert und dort 24 Stunden ausharren müssen, ehe ihnen Hilfe gebracht werden konnte. – Das sind Einzelnheiten von einer Stelle aus, und so und oft noch weit schlimmer lautete von tausend Orten.

Die Summe der ganzen Verheerung in Norddeutschland ist noch nicht gezogen, aber es giebt wenigstens einen schwachen Begriff derselben, wenn man liest, daß allein an der Elbe, Weichsel und Nogat einhundertundfünfzig Ortschaften unter Wasser stehen; der Schaden wird dort allein, natürlich nur sehr im Ueberschlage, auf 30 Millionen geschätzt. Nach Wittenberge flüchteten über tausend Gerettete aus der Umgegend. Aus Elbing meldet der Telegraph: 77 Ortschaften, 12 Quadratmeilen Landes mit 30 000 Einwohnern unter Wasser! Auf wie viel Millionen wird man dort die Verluste zu schätzen haben! Aehnlich lauten die Nachrichten aus Marienburg, Lübeck, und im Feldaukessel sind 15, bei Dömitz ebenso viele und im ganzen dort 50 Ortschaften überfluthet – wiederum über 6000 Meuschen obdach- und nahrungslos – und Gott weiß, auf wie lange Zeit! Ja, selbst von den Nebenflüssen, wie aus den Niederungen der Warthe, kommt dieselbe Kunde. – Mitten im Elende erhebt es das Herz, wenn man an den zahllosen kühnen und aufopfernden Rettungsthaten die Wahrheit des Lobes erkennt, daß an jenen Stromgestaden „ein selbstbewußtes kräftiges Menschengeschlecht wohnt, dem Furcht und blasses Verzagen unbekannt sind“; – diesen Eigenschaften derselben verdanken Hunderte von Menschenleben ihre Rettung. Gleiche Anerkennung gebührt der militärischen Hilfsleistung. Alle, die zur Hilfe gegen das wilde Element geführt wurden, vor allem die von der Marine und die Pioniere, haben in diesem Kampfe für ihr Volk ihren edelsten Beruf erfüllt.

Und wenn nun wirklich die Thore zum Meere frei für die Ströme werden und die Fluthen bis an die alten Ufer zurücktreten, ist dann die Noth vorüber? – Alle Nachrichten beklagen das Gegentheil: hier geht, soweit die Fluth getobt, mit ihrem Ende die wahre Noth erst an.

Man mag sich’s noch so eifrig ausdenken, wie die Tausende von Obdachlosen in diesen Wochen gelebt haben und noch leben mögen, die Tausende, welche alle zufrieden mit den Früchten ihres Fleißes im sicheren gemüthlichen Heim mit ihren Lieben den Arbeiten des Frühlings entgegensahen, und von denen Hunderte, im Wohlstand aufgewachsen, nun bettelarm die Noth noch viel bitterer empfinden, – so ist dies Alles kaum ergreifender als der Anblick derer, welchen es möglich ist, bis zu ihren Heimstätten vorzudringen. Nur wenige Baulichkeiten sind noch ohne Gefahr zu betreten, und nun wiederholen sich häufig die Scenen vom Anfang der Fluth: damals mußte Unzähligen, die erst ihr Vieh aus den vollen Ställen retten wollten, mit Gewalt das eigene Leben gerettet werden, – und ebenso muß man jetzt die lebensgefährliche Heimkehr mit Gewalt unmöglich machen. Diesen von der Fluth Vertriebenen ist ja leichter zu helfen als den Bewohnern der einst so fruchtbaren und reichen Niederungen, aus welchen die Fluth nicht ablaufen kann, sondern durch hydraulische Kraftmittel über die Dämme hinüber in die Strombetten befördert werden muß. Wie viel Wasser wird in den drei Strömen ruhig dahinfluthen, ehe auf den Boden dieser Länderstrecken die Sonne wieder scheinen kann!

So weit unsere Erinnerungen zurückgehen, ist in Deutschland noch keine elementare Verwüstung erlebt worden, die so viel Menschenglück vernichtet, über so viele Tausende die fürchterlichsten Leiden und Entbehrungen des Augenblicks verhängt hätte! Es ist nicht möglich, daß diesem furchtbaren Elend gegenüber nicht jede Hand sich sofort zur Hilfe regt! Wer am Morgen seine Lieben um den Frühstückstisch versammlt, die Kinder, fröhlich dem weichen Bett einstiegen, sich des warmen Labsals freuen sieht, der denke an die Tausende von Familien, welche von Haus und Hof und Bett und Tisch vertrieben, vielfach sogar der Kleidung entbehrend dahin flüchten mußten, wo sie, oft zusammengedrängt in beschränkteste Räume, seit Wochen von der Barmherzigkeit ihrer Mitmenschen erhalten werden, – Greise und Kinder, Herr und Knecht, Frau und Magd – alle gleich bettelarm geworden! Dieses Bild vor Augen, bitten wir unsere lieben Leser und Freunde in Deutschland und in aller Welt, an den Opferstock des Vaterlandes zu treten. Steuere jeder sein Pflichttheil im Andenken und zum Dank für ein Liebes, das ihn beglückt oder das er verehrt, und sein deutscher Stolz wird ihm das Maß seines Opfers bestimmen, ob es der Heimath, ob es dem Vaterlande geweiht sei, ob es aus einfachster Menschenliebe in die Opferschale falle – immer wird Gott es segnen als „deutschen Unglücks – deutsche Hilfen!“

Friedrich Hofmann.

Die Redaktion der „Gartenlaube“ übernimmt den hiermit aufgestellten Opferstock; sie wird über die Eingänge, welche an die Expedition der „Gartenlaube“ in Leipzig zu richten sind, quittiren und dieselben den Sammelstellen übermitteln.

Die Redaktion.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 276. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_276.jpg&oldid=- (Version vom 15.2.2023)