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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

welchem Tage zwischen Voghera und Genua im Thale von Stalfora ein furchtbarer Stoß, der noch in Marseille, Genua und Turin verspürt wurde, große Verheerungen anrichtete. Der Katastrophenstoß, dessen Schilderung in zwei Artikeln der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ von 1828 (Nr. 290 und 308) sich findet, trat um 3 Uhr 11 Minuten morgens ein, und es ist sehr bemerkenswert , daß in derselben Nacht – genau so wie bei dem Erdbeben an der Riviera – eine Sonnenfinsterniß stattfand, welche von 10 Uhr abends bis 4 Uhr morgens sich vollzog und ringförmig war.

Das Zusammentreffen von Finsternissen mit Erdbeben wird bereits von alten Schriftstellern erwähnt und Aristoteles spricht davon in seiner Meteorologie. „So kommt es auch ab und zu vor, daß um die Zeit einer Mondfinsterniß ein Erdbeben eintritt“ (II. 8). Nach Phlegon von Tralles, einem Chronisten des zweiten Jahrhunderts, fand in der Olympiade eine große von einem Erdbeben begleitete Sonnenfinsterniß statt, wobei Nicäa in Bithynien zerstört wurde. In dieselbe Olympiade fällt auch das Erdbeben und die Finsterniß beim Tode Christi am 3. April des Jahres unserer Zeitrechnung. Der Vollmond ging am Abende jenes Tages, der sich in der That als ein Freitag und außerdem als der Vortag des Osterfestes der Juden erweist – wie dies der Verfasser zuerst dargethan hat – verfinstert über Jerusalem auf. Am 22. Dezember 968 n. Chr. ereignete sich ein großes Erdbeben zu Korfu während einer totalen Sonnenfinsterniß. Am 14. Dezember 1797 wurde die Stadt Cumana 4 Tage vor einer Sonnenfinsterniß durch ein Erdbeben zerstört, und genau dasselbe Verhältniß hatte statt zwischen der Zerstörung von Arequipa und der darauffolgenden Sonnenfinsterniß. Am auffälligsten aber erschien dieses Zusammentreffen in jüngster Zeit. Am 6. März 1886 wurde Cosenza und dessen Umgebung von einem zerstörenden Erdbeben heimgesucht, welchem in der Nacht vorher die erste der beiden Finsternisse des Jahres vorausging. Am 29. August desselben Jahres trat die zweite Finsterniß ein und um sie gruppiren sich symmetrisch die beiden größten Katastrophen des Jahres: das Erdbeben von Philiatra in Griechenland am 27. und jenes von Charleston in Nordamerika am 31. August. Wie sehr zu dieser Zeit die Tiefen der Erde in Aufruhr standen, beweist auch der Umstand, daß am nämlichen Tage des 31. August der Vulkan der Insel Nina Föou in der Südsee, nach mehr als 30jähriger Ruhe, einen so gewaltigen Ausbruch hatte, daß sämmtliche Dörfer in seiner Umgebung mit Ausnahme zweier zerstört und 12 Fuß tief in die Erde begraben wurden. Darauf folgte die Finsterniß mit dem Erdbeben an der Riviera am 23. Februar 1887, und dann am 2. August desselben Jahres die Zerstörung der Stadt Cuença in Ecuador, nach welcher am nächsten Tage eine Mondfinsterniß eintrat. Diese angeführten Fälle sind so auffallend, daß man, bei der relativen Seltenheit der Erdbebenkatastrophen einerseits und der Finsternisse andrerseits, nach mathematischer Wahrscheinlichkeit das Zusammentreffen nicht mehr für zufällig, sondern für gesetzmäßig annehmen muß.

Ist aber letzteres der Fall, so fragt es sich: in welcher Art wird durch die Finsternisse das Phänomen der Erdbeben beeinflußt? Die Antwort darauf muß offenbar auf die Ursache der Erderschütterungen überhaupt zurückgreifen. Da jedoch alles, was bis jetzt darüber vorgebracht wurde, über das Niveau einer subjektiven Ansicht nicht hinausreicht, so kehrt sich hier die Fragstellung um und lautet dann: welche von allen möglichen Erschütterungsursachen ist so beschaffen, daß ihr Zusammenhang mit den Finsternissen eine mathematisch-physikalische Nothwendigkeit wird?

In solcher Weise vereinfacht sich die Untersuchung über die Ursache der Erdbeben wesentlich, und werden ferner noch andre Thatsachen der Erdbebenstatistik, wie z. B. die Verteilung derselben nach den verschiedenen Monaten des Jahres, ihr Verhalten den Phasen des Mondes gegenüber, in der Untersuchung gleichzeitig berücksichtigt, dann erscheint der Spielraum der wissenschaftlich erlaubten Vermuthungen über die wahrscheinlichste Ursache, gegenüber der vagen Annahme mehrerer oder aller möglichen Ursachen, bereits so eingeschränkt, daß das Endurtheil wohl kaum mehr ein willkürliches oder persönliches genannt werden darf.

Wenn wir zunächst die Katastrophenerschütterungen als diejenigen, bei welchen die zu enträtselnde Erscheinung in auffälligster Weise zu Tage tritt, ins Auge fassen, so stellen sich als solche Thatsachen dar:

a) der mechanische Typus des Stoßes; b) der Verlauf der Erschütterungen; c) die örtliche Verteilung und d) die zeitliche Verteilung derselben.

Wir wollen nun diese Punkte, über deren maßgebende Rolle bei der Frage nach der Ursache der Erdbeben in allen Lagern volle Uebereinstimmung herrscht, der Reihe nach zur Erörterung bringen.

a) Der mechanische Typus des Stoßes.

Wenn von verschiedenen Orten eines ausgedehnten Gebietes die Nachricht von nahezu gleichzeitigen Erdbeben mitgetheilt wird, so stellt sich bald heraus, daß einer derselben am stärksten betroffen wurde und sich die übrigen Orte nahezu symmetrisch um denselben gruppiren. Man nennt diesen Ort den oberflächlichen Erdbebenherd oder das oberflächliche Erschütterungscentrum. Er befindet sich dem unterirdischen Focus des Bebens, dem eigentlichen Ursprunge desselben, am nächsten und nahezu senkrecht über demselben, wie aus der senkrecht ausstoßenden Bewegung des Bodens daselbst hervorgeht. Was immer auch die unmittelbare Ursache einer Erderschütterung sei, stets laufen die Erschütterungsstrahlen aus dem Focus wie die Radien einer Kugel nach allen Richtungen. Damit ist auch schon die Charakteristik des Stoßes für die verschiedenen davon betroffenen Orte theoretisch gegeben. Am Herde, wo diese Strahlen die Oberfläche senkrecht treffen, äußert sich daher die Erscheinung durch eine aufstoßende Bewegung des Bodens; während die übrigen Orte desto schiefer getroffen werden, je weiter sie vom Herde entfernt sind, und daher nur eine seitliche, wellenförmige Bewegung verspüren. Die Stärke der Erschütterung am Herde des Erdbebens hängt nach den Gesetzen der Mechanik einerseits von der Intensität derselben am Focus, andrerseits von der Nähe des letzteren an der Oberfläche ab. Die Ausdehnung des ganzen erschütterten Gebietes dagegen wächst einerseits gleichfalls mit der Intensität des Ursprungs, andrerseits aber mit der senkrechten Entfernung des Focus von der Erdoberfläche. Es verrathen daher im allgemeinen Katastrophen mit geringer Ausdehnung des Erschütterungsgebietes eine geringere Tiefe des Ursprungs, als solche, bei welchen die Erschütterung sich weithin verbreitet. Um dem Leser einen beiläufigen Begriff zu geben, aus welcher Tiefe das furchtbare Phänomen seinen Ausgang nimmt, möge hier die Zusammenstellung der bisher annähernd gelungenen Berechnungen folgen:

Ursprung des Erdbebens von: Tiefe in Kilometern:
a) Basilicata (16. Dezember 1857) 12
b) Herzogenrath (22. Oktober 1873) 11
c) Mitteldeutschland (6. März 1872) 20
d) Sillein (15. Jänner 1858) 26
e) am Rhein (29. Juli 1864) 43

während die größte Höhe, welche die Gebirge auf der Erde erreichen, ungefähr 9 Kilometer beträgt.

Es ist also festzuhalten, daß bei dem Katastrophenstoße nur Ein Centrum beobachtet wird und daß sich in demselben der Hauptstoß zunächst in senkrechter Richtung fühlbar macht.

b) Der Verlauf der Erschütterungen.

Es ist eine merkwürdige, ausnahmslose Thatsache, daß jeder Katastrophenstoß von einer Reihe schwächerer Erschütterungen gefolgt wird, welche mit abnehmender Stärke und Häufigkeit wiederkehren und meist erst nach mehreren Monaten gänzlich aufhören. So heißt es denn in den Zeitungen regelmäßig nach einer Katastrophe: die Erderschütterungen dauern fort. Dieser Umstand erscheint uns um so auffallender, als vor der Katastrophe schwächere Erdstöße in seltenen Fällen und dann höchstens einer oder zwei unmittelbar oder wenige Stunden vor derselben beobachtet werden. Meist werden diese letzteren Beobachtungen nur hinterher von einigen Personen behauptet und sind daher sehr zweifelhafter Natur, so daß man wohl als allgemeine Regel hinstellen kann: der Katastrophenstoß steht am Anfange der Reihe. Und das ist sehr zu bedauern; denn verhielte sich die Sache umgekehrt und gingen diese vielen schwachen Stöße der Katastrophe voran, dann würden sie eine rechtzeitige Warnung sein und vielen Menschen das Leben retten. Die gesammte Chronik der Erdbeben aber verzeichnet unter ihren Hunderten von Katastrophen keinen einzigen Fall dieser Art.

Von Wichtigkeit ist es nun für die Auffindung der Ursache der Erdbeben, in einer solchen Reihe von Sekundärstößen, die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_246.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)