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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Grabstein, unter dem Joachims Lieblingshund lag, die kleine gelbe Dachshündin, die Lola hieß und so klug war, daß sie ihn niemals verrieth, wenn die Kinder Verstecken spielten; sie lag dann mäuschenstill neben ihrem jungen Herrn und hielt den Athem an, wie er, wenn der Suchende in die Nähe kam. – Es waren glückliche Zeiten – wo waren sie geblieben?

„Wo geht es dort hinaus?“ fragte der Prinz, auf eine schmale niedere Pforte in der Mauer deutend.

„In das Dorf, Hoheit,“ erwiderte Claudine. „Die Pforte wird benutzt zum sonntäglichen Kirchgang.“

Der wißbegierige Prinz zog das schöne Mädchen immer weiter an der Mauer entlang, sie mit allerhand Fragen bestürmend. Plötzlich erblickte er einen Häher in einem der hohen Bäume und vergaß seine Dame und seine Ritterpflicht, indem er dem Vogel nachlief, der durch die Aeste streifte, als wollte er den Knaben necken, bald hier, bald dort auftauchte und verschwand, immer weiter und weiter.

Claudine, die, in ihren wehmütigen Erinnerungen versunken, achtlos dahingegangen war, kam erst nach einer ganzen Weile zum Bewußtsein, daß sie allein sei. Sie holte tief Athem und wischte mit dem Tuche über die Augen. Was wollte sie denn eigentlich? – Es war doch nicht anders, als es eben war! Mit Kopfhängen und Thränen zwingt man nichts Verlorenes zurück, mit Weinen und Sehnen kann man nichts erringen, was einem versagt sein soll nach Gottes Rathschluß. „Es wird die Zeit kommen, wo es nicht mehr schmerzt,“ tröstete sie sich, „sie muß kommen; es wäre ja nicht möglich, zu leben mit der brennenden Wunde im Herzen!“

Sie war selbstvergessen stehen geblieben; es hatten sich doch ein paar große Tropfen an den Wimpern gesammelt. – Jetzt, wo sie allein, wollte all das Weh hervorbrechen, das sie empfand in seiner Gegenwart; sie meinte in diesem Augenblick, sie würde es nicht ertragen, ihn mit lächelnder Ruhe neben jener Andern zu sehen, als das erklärte Eigenthum einer oberflächlichen unartigen kleinen Frau.

„Verzeihen Sie, Kousine,“ klang plötzlich seine Stimme in ihr Ohr. Sie wandte sich mit jähem Erschrecken, und blitzgeschwind fiel ein funkelnder Tropfen aus dem Auge auf ihre Hand, die sie hastig mit der andern verdeckte, und der alte stolze Ausdruck breitete sich über ihre schönen Züge.

„Ich würde nicht gewagt haben zu stören,“ fuhr er fort, einen Schritt näher tretend, „Ihre Hoheit beauftragte mich aber, Ihnen zu sagen, wie leid es Hochderselben thue, Sie verletzt zu wissen.“

„Hoheit ist wie immer gütig,“ scholl es kühl zurück. „Ich bin nicht verletzt; derartiges lernt man übersehen und – beurtheilen nach Verdienst.“

„Es scheint, Sie haben viel gelernt in der letzten Zeit, Kousine,“ sagte er bitter und ging neben ihr weiter. „Ich erinnere mich der Zeit, wo Sie noch scheu wie ein Reh vor jedem Blick flohen, und ich dächte, das ist noch gar nicht so lange her – in den Sälen des Residenzschlosses.“

„Gewiß!“ erwiderte sie. „Urplötzlich erstarkt ein schwaches Herz, sobald es fühlt, es muß allein für sich einstehen. Ich bin übrigens dreiundzwanzig Jahre alt, Vetter, und in der letzten Zeit gewaltsam aufgerüttelt aus dem sorglosen Mädchenleben.“

„Es ist etwas Großes um eine stolze Frauenseele,“ antwortete er ironisch; „nur schade, daß dieser Stolz beim ersten Anprall des Lebens so leicht brechen kann. – Für mich hat es stets etwas Rührendes,“ fuhr er fort, „wenn ich sehe, wie ein Weib, das die Welt nicht kennt, mit einem Muth sondergleichen sich als Heldin auf einen unmöglichen Posten stellt; man möchte sich die Augen zuhalten, um nicht zu sehen, wie sie zusammenbricht, und vermag es doch nicht; man möchte sie zurückreißen von dem schwindelnden Abgrund und wird doch nur kalt lächelnde Zurückweisung dafür ernten.“

„Vielleicht besitzt dennoch die Eine oder die Andere neben dem Muth auch die nöthige Stärke, auf dem Posten auszuhalten,“ sagte Claudine, bebend vor innerer Erregung, und schlug einen rascheren Schritt an.

„Möglich!“ erwiderte er achselzuckend. „Es giebt Naturen, die da von sich als von einer Ausnahme denken: ‚Seht, das kann ich wagen, ungestraft wagen!‘ Sie sind dann plötzlich am tiefsten zu Boden geschmettert.“

„Meinen Sie?“ fragte sie ruhig. „Nun, es giebt auch Naturen, die hoch genug von sich denken, um den Weg zu gehen, den ihr Gewissen und die Pflicht sie wandern heißt, ohne nach rechts oder nach links zu sehen und ohne auf unberufene Wegweiser zu achten.“

„Unberufene?“

„Ja!“ rief sie, und ihre schönen Augen blitzten in leidenschaftlicher Erregung. „Wie kommen Sie dazu, Baron Gerold, mir Ihre dunklen Weisheitssprüche, Ihre räthselhaften Sarkasmen aufzutischen, sobald Sie mich erblicken? Haben wir je mit einander so gestanden, daß Sie diese Bevormundung wagen dürfen?“

„Niemals!“ antwortete er tonlos.

„Und wir werden auch niemals so stehen,“ fuhr sie bitter fort. „Ich kann Ihnen aber, falls es Sie beruhigt, die Versicherung geben, daß der Name ‚Gerold‘ durch mich nicht leiden wird, denn – und das ist doch wohl Ihre alleinige Sorge – ich kenne meine Pflicht.“

Er war blaß geworden.

Sie eilte jetzt schneller vorwärts; er blieb etwas zurück und holte sie dann wieder ein an der schmucken Gärtnerei, in der Heinemanns einzige Tochter mit ihrem Manne wohnte. Claudine war vor dem offenen Fenster stehen geblieben; da saß Heinemanns niedliche Enkelin hinter dem weißen Vorhange und weinte zum Gotterbarmen, und die Mutter, eine saubere freundliche Frau, trat an ihre ehemalige junge Herrin und wischte sich die Augen mit dem Schürzenzipfel.

„Ihr Bräutigam hat ihr heute abgeschrieben, gnädiges Fräulein,“ erklärte sie.

Das Mädchen preßte jetzt die Hände vor die Augen und bog sich aufschluchzend hinter die Gardine zurück.

„Aber weshalb denn?“ fragte Claudine mitleidig, ihre eigne Erregung beherrschend.

„Sie ist selbst schuld daran, gnädiges Fräulein,“ begann die Frau bekümmert, indem sie den näher kommenden Baron begrüßte; „der junge Herr auf dem Gute, wo sie in Kondition war, ist ihr alleweil nachgelaufen und hat schön mit ihr gethan; da hat der Wilhelm gemeint, sie sei ihm nicht treu.“

„Das ist unrecht vom Wilhelm,“ sagte Claudine kurz.

„Ach, gnädiges Fräulein,“ entschuldigte die Frau, „man kann’s ihm gar nicht so verdenken. Ich weiß ja, daß sie brav ist, ich kenne mein Kind; aber so ein junger Mann – die Lisette hätte eben fortgehen sollen von der Stelle, wie ich es ihr rieth; dann wär’s so nicht gekommen. Sehen Sie, Herr Baron,“ fuhr sie jetzt zu Herrn von Gerold gewendet fort und machte ihm eine ungeschickte Verbeugung, „das glaubt ihr doch kein Mensch, die Welt ist nun einmal so; und wenn sie sich das Haar darum ausrauft, es glaubt ihr keiner, daß sie nichts Unrechtes gethan. Mir ist heute schon gar vielemal der Spruch eingefallen, den mir Ihre gnädige Frau Großmutter selig zu meiner Konfirmation ins Gesangbuch schrieb, gnädiges Fräulein. Da steht es,“ sagte sie und griff zum Fenster hinein, langte ein schwarz eingebundenes Buch mit Goldschnitt von dem Fensterbrett und reichte es aufgeschlagen Claudine hin; „dort, unter dem Spruch des Herrn Pfarrers.“

Claudine nahm das Buch. Dort standen von einer feinen Männerhand die Worte geschrieben: „Selig sind, die reines Herzens sind“ – und mit den großen energischen Schriftzügen der alten Baronin: „Sei nicht nur rein, meid’ auch den Schein.“

In Claudinens Hand begann das Buch zu beben; stumm gab sie es zurück.

„Lassen Sie ihn ziehen, mein Kind,“ tönte jetzt Lothars Stimme seltsam hart; „er wäre ein unbequemer Ehemann geworden mit seinem Hang zur Eifersucht und zu Moralpredigten.“

Das Mädchen fuhr empor. „Nein, nein! Er war so gut und so brav; ich überlebe es nicht, wenn er nicht wiederkommt!“

„Man kann vieles überleben, Kleine,“ sagte er jetzt gutmüthig; „es stirbt sich nicht so leicht an getäuschten Erwartungen.“

Claudine hatte dem Mädchen ernst zugenickt; die Blässe der Erregung lag noch immer auf ihrem Gesichte.

„Leb wohl, Lisbeth,“ sprach sie, „und gräme Dich nicht um einen, der Dir nicht vertraut.“

„Ach, gnädiges Fräulein, sagen Sie das nicht!“ rief das Mädchen und eilte vom Fenster weg.

Claudine wandte sich und schritt weiter; ihr zur Seite Lothar. Die Worte der Großmutter flammten vor ihren Augen und warfen ein befremdendes Licht auf ihre eigene Lage. Wie, wenn man von ihr bereits wisperte und spräche? Und wenn es

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