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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Kind hatte ich allmählich mein Herz an sie gehängt, bis ich sie zu lieben begonnen, bis die Menschennatur, mächtig in ihr wie in mir, ihre Liebe für mich, meine Leidenschaft für sie erweckte und uns verbunden hat. – Wäre es möglich gewesen, ohne noch einmal den Kampf mit den Verhältnissen aufzunehmen durch eine Mesalliance ohnegleichen, ich hätte Franull geehlicht. Denn die Liebe, an die ich nicht mehr geglaubt, sie hat sie für mich gefühlt. Sie hat mich geliebt wahrhaft, ganz ausschließlich, mit aller Kraft ihrer starken, ungebrochenen Natur! Und trotz meiner sechsundvierzig Jahre habe auch ich sie sehr geliebt. Nicht daß sie vom Leben scheiden mußte und von dem Kinde – daß sie von mir gehen sollte, das war ihr letzter Schmerz – ihre letzte Klage – ihr letztes Wort, mit dem sie mir das Kind ans Herz gelegt, und an meinem Herzen werde ich es halten! Die Tochter eines freiherrlichen Hauses ist mir zum Fluch geworden; das Kind des niedrigsten Volkes hat ihn von mir genommen, diesen Fluch, hat mich erlöst, der Liebe wiedergegeben. Und nun –‛

Er vollendete nicht. Der Vater reichte ihm die Hand; er küßte die Hand meiner Mutter. Sie sagte, als sie mir später einmal davon gesprochen, des Grafen Ergriffenheit, der Zwang, den er sich angethan mit seinem Bekenntniß, habe sie überwältigt, obschon sie im Grunde nichts erfahren, als was sie sich selber hatte sagen können; und trotz der geforderten Gewissenhaftigkeit, mit welcher sie und mein Vater auf Zucht und Anstand hielten, hätte sie empfunden, daß außergewöhnliche Schicksale eine außergewöhnliche Charakterentwicklung erzeugen und darum eine besondere Beurtheilung und Behandlung verlangen. Und so hatte denn trotz des Widerstrebens, das meine Mutter gegen die Vorgänge gehegt, die Freundschaft zwischen meinen Eltern und meinem Pathen an dem Abende eine neue Befestigung erhalten, eben weil man es erkannte, wie wichtig es sei, ihm beizustehen, daß er an der Tochter vergüte, was er an der Mutter gefehlt.

Auf den Gütern in der Nachbarschaft aber fand man sich auch bald mit dem anfangs unglaublichen, viel besprochenen und viel verspotteten Entschluß des Grafen ab. Hatte man doch überall in der Welt, auf dem Lande wie in den Städten, überall wo man unter Menschen lebte, manches zu sehen und zu wissen was nicht zu sehen und nicht zu wissen man sich den Anschein geben mußte, manches und vieles geschehen zu lassen, was man nicht ändern konnte! – Warum sollte man dem Grafen, der ohnehin niemand in den Weg kam, der den Sonderling spielte, nicht die Grille durchgehen lassen, sich zu seiner Gesellschaft statt eines Pudels oder eines Papageis das Kind einer Landstreicherin auffüttern und aufziehen zu lassen? Was er nachher damit machen würde, das wäre seine Sache; was daraus werden würde, das werde man ja erleben. – Das sagte diese, das sagte jener, und man meinte damit fertig zu sein. Und doch, eben weil man auf dem Lande lebte, wo die Neuigkeiten eines Tages die des andern nicht so rasch verdrängen, blieb das Kind im Schloß zu Dambow gleichsam ein öffentliches Geheimniß, blieb es unter allgemeiner Aufsicht und der Gegenstand neugierigen Uebelwollens.

Es lebten rund um Dambow auf den adligen Gütern, auf den Herrensitzen und Schlössern gar zu viel alte und junge Edelfräulein, die bereit gewesen wären, den Grafst Dubimin in rechtschaffener, christlicher Ehe über seine Vergangenheit zu trösten und die Mutter seiner Kinder zu werden. Warum mußte er denn sein Herz hängen an das Kind einer Zigeunerin!

Glücklicherweise schadeten aber das Gerede und das Uebelwollen dem Gedeihen des Kindes nicht, das ja nicht schuld war an seinem Dasein. Es kam natürlich in seiner ersten Lebenszeit nicht zum Vorschein, wenn ein Gast im Hause war, was selten genug geschah; und als ich es bei einem Besuche, zu dem wir nach Dambow geladen waren, zum ersten Male sah, war Franull schon zwei Jahre alt.

Wir hatten im Schlosse gespeist und gingen darnach in den Garten hinaus, in welchem, wie immer in der guten Jahreszeit, unter den Linden, vor denen sich der Rasenplatz ausbreitete, der Kaffee getrunken und zugleich die eben in voller Pracht blühenden Rosen an Augenschein genommen werden sollten; und da saß mitten auf dem Rasen die kleine Franull, hell von dem warmen Sonnenlicht umfluthet, eine Menschenknospe, schöner als die ganze Rosenpracht umher.

Den Grafen sehen, sich auf die Händchen stützen, um schneller aufzustehen, ihm mit vorgestreckten Aermchen entgegeneilen: das war das Werk einer Minute. Des Grafen ernstes Antlitz erhellte sich bei dem Anblicke. Er ging ihr entgegen, hob sie empor, und ich höre noch den Ausruf meiner Mutter: ,Das ist ja ein engelschönes Kind!‛

Man sah dem Grafen an, wie wohl ihm die Bewunderung seines Kindes that.

,Nicht wahr?‛ sagte er, ,sie ist ein liebes Geschöpf! Jeden Morgen, wenn man sie mir bringt, freue ich mich über sie; jeden Abend freue ich mich, daß ich sie am Morgen wieder sehen werde. Ihre Fröhlichkeit, ihr Lachen erhellen mir die Tage! Franull, wie lieb hast Du mich?‛

,So! so lieb!‛ rief sie und schmiegte ihr blondes Lockenköpfchen an des Grafen gebräuntes und gefurchtes Antlitz.

Der Graf küßte sie, setzte sie auf den Boden; meine Mutter machte sich entzückt mit ihr zu schaffen; die Wärterin wollte sie auf den Arm nehmen und sich mit ihr entfernen.

,Nein! Nicht mit Lise!‛ rief sie, sich sträubend. ,Gehen! gehen!‛ Und wohl weil ich ihr zunächst stand, langte sie nach meiner Hand und sagte: ,Komm, Du!‛

Wie alle Burschen meines Alters hatte ich mir aus Kindern nie etwas gemacht. Jeder Spitz und jeder Jagdhund waren mir lieber gewesen als ein kleines Kind; aber daß dieses Kind von seltener Schönheit war, das mußte auch der Achtloseste bemerken, und die selbstwillige Freundlichkeit, mit der die Kleine sich an mich hing, sich meiner bemächtigte, gefiel mir. Ich fragte, ob ich mit ihr spielen solle.

,Ja! Du sollst!‛ rief sie und zog mich mit sich fort, während ich meine Mutter scherzend sagen hörte. ,Wie sie befehlshaberisch ist! – Wo soll’s denn hin?‛

,Wohin sie will!‛ rief ich zurück. ,Ich weiß nicht.‛

Ach, ich wußte es freilich nicht! – Und ich hatte den Tag schnell genug vergessen, den bald darauf kam ich in die Stadt, und erst viele, viele Jahre später habe ich dieses Nachmittages wieder gedacht, und wie oft gedacht wie heute!

Da wir Reformirte waren, hatte nie davon die Rede sein können, mich zum Konfirmandenunterricht nach Benwitz zu schicken, wenngleich die Eltern die dortige lutherische Kirche regelmäßig besuchten, weil eben keine reformirte in unserem Bereiche vorhanden war. Aber zum Genuß des heiligen Abendmahls waren die Eltern alljährlich zweimal nach Berlin gefahren, und es hatte immer festgestanden, daß ich im vierzehnten Jahre zu meinem Onkel nach Berlin gegeben werden würde, der dort die Stelle eines Rechnungsrathes bekleidete, um von da ab auch das französische Kolleg zu besuchen und den Religions- und Konfirmandenunterricht in unserer Kirche zu genießen.

Als ich mit Doktor Hartusius nach Dambow hinüberritt, mich von meinem Herrn Pathen vor meiner Uebersiedelung in die Stadt zu verabschieden, während der Doktor, der durch Vermittelung unserer Familie eine Anstellung am französischen Kolleg erhalten, sich ihm gleichzeitig ebenfalls empfehlen wollte, sah ich mich beim Fortgehen überall nach Franull um. Ich hätte das fröhliche Kind gern wiedergesehen. Nach ihm zu fragen wagte ich nicht, und ich würde Franulls gewiß bei dem völlig neuen Leben nicht mehr gedacht haben, wenn nicht in meines Onkels Haus ein kleines ihr gleichalteriges Mädchen gewesen, das mich oftmals zu Vergleichen zwischen ihm und Franull veranlaßte, die immer zu Gunsten der Letzteren ausfielen, und das steigerte sich mit den Jahren.

Es verstand sich von selbst, daß ich alle meine Ferien bei den Eltern in Schönfelde verlebte, und ebenso, daß ich dabei jedesmal meinen Herrn Pathen in Dambow besuchte, zu dem wir dann regelmäßig auch eine Einladung erhielten; und jedesmal, wenn ich nach Dambow kam, fand ich, daß Franull ungewöhnlich rasch heranwuchs, daß sie immer schöner, immer klüger, immer zutraulicher zu mir wurde; und kehrte ich dann nach Berlin zurück und sah dort in den Hofkarossen und sonstigen vornehmen Equipagen die kleinen Fürstenkinder und Komtessen spazieren fahren, so gefielen mir die auch sehr wohl; aber mit Franull waren sie sammt und sonders doch nicht zu vergleichen.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_215.jpg&oldid=- (Version vom 6.6.2018)