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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

„Nein nein, Madame!“ rief er, „wie können Sie mich für so anspruchsvoll halten, daß ich nicht in jedem Augenblick dankbarst die herzliche Freundschaft und Vorsorge empfände, mit der es Ihnen gefällt, mich zu umgeben! Nur mit mir bin ich unzufrieden; denn ich habe mich verfehlt gegen die Gastfreundschaft und gegen die Zuversicht, die Sie mir gewähren. Ich habe Fränzchen ohne Ihre Zustimmung zur Vertrauten meiner Vergangenheit gemacht, in welcher – ich darf das sagen – ich mich keiner Verschuldung anzuklagen habe, die man einem jungen Mädchen zu verbergen hätte. Aber es ist gesündigt worden gegen die Sittlichkeit und gegen die Sitte innerhalb des Kreises, in welchem ich meine Kindheit und erste Jugend zuzubringen gehabt, und das hat seinen Schatten geworfen auf meinen Lebensweg. Davon habe ich mit Franziska gesprochen, während ich zugleich die Forderung an sie gestellt, gegen jedermann, also auch vor Ihnen zu verschweigen, was sie von mir gehört. Das war beides ein Unrecht gegen Sie, meine Freundin! Wollen Sie’s verzeihen?“

Die Mutter, zuerst betroffen, hatte doch das sich nie verleugnende Zartgefühl unseres Freundes anzuerkennen; aber er ließ ihr zu der Entgegnung nicht die Zeit, sondern bat sie, ihm zu gestatten, daß er auch sie in sein Vertrauen ziehe; und mit ebenso raschen als sicheren Zügen schilderte er ihr, wie er dazu gekommen, mit mir von seinen Erlebnissen zu sprechen, und theilte ihr in kurzem Umrisse mit, was er mir in Ausführlichkeit berichtet.

Als er bis zu dem Punkte gelangt war, zu welchem er neulich seine Erzählung geführt, sagte die Mutter mit ihrem sanften Ernste, indem sie ihm die Hand gab:

„Sie machen sich einen Vorwurf nicht ganz ohne Grund, denn Sie haben Franziska verleitet, nicht aufrichtig gegen mich zu sein. Mag sie sich das vergeben, wenn sie’s kann! Sie, mein Freund, haben Ihre Buße gethan; und nun, da wir beisammen sind, Mutter und Tochter, wie es sich gebührt, erzählen Sie ihn uns weiter, den Roman Ihres Lebens, der uns so weit näher angeht als die Erfindung der Dichter oder die Erlebnisse von uns fremden Menschen, welche uns zugetragen werden in dem täglichen Verkehr der Gesellschaft, die doch auch nicht frei ist von Schuld und Fehle, so wenig wie der Graf und wie die Frau, die ihn verrathen. Erzählen Sie! Wir hören Ihnen mit dem Herzen zu.“

Josias küßte ihr die Hand; ich that desgleichen; sie wehrte es mir nicht, und nach ihrer wiederholten Aufforderung sagte er:

„Die Geburt jenes Kindes war mein Schicksal! Doch würde sie in jenen Tagen keinen nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht haben, wäre es nicht eben das Kind der schönen Tänzerin gewesen, deren Sturz vom Seile zu meinen lebhaftesten Erinnerungen gehörte, und wäre diese nicht gestorben. Nun war sie hin und die kleine Franull war eben da.

Gegen die Gewohnheit der letzten Jahre vergingen jedoch mehrere Wochen, bevor der Graf wieder bei uns in Schönfelde erschien. Der Vater war einmal ohne die Mutter nach Dambow gefahren, man hatte den Grafen nicht eingeladen, und er hatte sich nicht ansagen lassen. Darüber waren wir bis in den Anfang des Dezembers gekommen. Der Schnee lag schwer auf Feld und Wald. Der Herbst war sehr naß gewesen; dazwischen hatte es gefroren und wieder gethaut; die Wege waren zwischen Halten und Brechen fast grundlos. Es war mit den Wagen kaum durchzukommen. Das bot für eine Unterbrechung des Verkehrs zwischen den Gutsnachbarn den natürlichsten Vorwand. Da kam endlich nach klarem Tage und scharfem Frost ein Abend, den der Mond erleuchtete, daß es von den Zweigen und Aesten unserer Ulmen flimmerte wie die Sterne am Himmel und man mit Vergnügen hinaus sah aus den Fenstern in die Weite; und ich hatte noch nicht lange in dem vorgebauten Erker gestanden, als zwei Reiter sichtbar wurden und einritten in den Hof. Es war der Graf, gefolgt von seinem Reitknecht.

Der Vater eilte ihm entgegen; gleich darauf traten sie in das Zimmer. Die Begrüßung war die herzliche wie stets, die Unterhaltung beim Abendessen heiter, und als dann Doktor Hartusius, was er sonst nicht zu thun pflegte, sich gleichzeitig mit mir entfernte, blieben der Graf und meine Eltern noch über die sonst gewohnte Zeit beisammen. Es war gegen Mitternacht, als er Schönfelde verließ, und am nächsten Sonntage speisten wir alle bei ihm in Dambow.

Erst viel später habe ich erfahren und begreifen können, was an jenem Abende zwischen dem Grafen und den Eltern zur Sprache gekommen war. Wir lebten, ich muß das vorausschicken, damals ja noch in den Zeiten, in welchen auch bei uns in der Mark die Leute noch Hörige, wenn schon nicht mehr im strengsten Sinne des Wortes Leibeigene waren. Sie waren noch an die Scholle gebunden; ihr Fortgehen, ihr Heirathen hingen ganz von dem Belieben des Gutsherrn ab, und die Sittlichkeit hatte darunter zu leiden, daß es von dem Herrn abhing, ob er einem Ehepaare ein Unterkommen an einer Kathe geben oder nicht geben wollte.

Knechte und Mägde nahmen es leicht mit ihrem Verkehr; die Gutsherren sahen durch die Finger, ließen geschehen, was sie nicht hindern konnten; und ein Kind mehr, das in guten Zeiten nicht schwer mit durchzufüttern war, wurde bald zu einer Arbeitskraft, die man brauchen konnte. Nur schlug man bei der Geburt solcher Kinder, am wenigsten wenn sie im Gutshause oder an den Schlössern stattgefunden hatte, nicht an die große Glocke. Man gab die Kinder fort zur Pflege und wahrte die äußere Sitte.

Daß der Graf dies nicht gethan, er, gegen dessen persönlich ernste, ehrbare Lebensführung, seit er in Dambow lebte, nie der Schatten eines Zweifels laut geworden war, daß er, indem er das Kind der Seiltänzerin im Schlosse behielt, ein öffentliches Aergerniß verursachte und sich dem fremden Urtheil ohne alle Nothwendigkeit preisgab, das hatten meine Eltern, eben weil er ihr Freund war und sie streng auf Zucht und Anstand hielten, ihm verargt; denn sie hatten ihn als ihren Freund zu vertreten vor allen Denen, die nicht seine nahen Freunde waren und die ihm seine Abgeschiedenheit als Hochmuth und als Stolz auslegten, obschon sie den Anlaß kannten, der ihn in sich zurückgewiesen.

Er hatte denn es natürlich sofort empfunden, daß meine Eltern sich von ihm zurückgehalten, und er war, wie er gesagt, gekommen, sich zu erklären, sich mit ihnen wieder in das Gleiche zu setzen. Er hatte meine Mutter gefragt, ob sie ihn hören wolle. Wie hätte sie ihm das verweigern können? Und zum ersten Male hatte er darauf vor den Eltern von der nicht zu vergebenden tödlichen Kränkung gesprochen, die er durch seine Frau erlitten.

,Wie jeder, der überhaupt von mir weiß.‛ hatte er gesagt, ,werden auch Sie es wissen, welch ein Geschick mich getroffen, was mich in die Einsamkeit getrieben. Ich habe mich loszureißen gehabt von meiner ganzen Vergangenheit. Ich habe verzichtet auf den Dienst in meines König’s Heer, nach allen Seiten mußte ich mich durchschlagen mit harter Gewalt. Man stößt eine Frau, die man frei gewählt, die man sehr geliebt, der man, weil man selbst Vertrauen verdiente, fest vertraut – man stößt ein Kind, das unseren Namen getragen, an das man sein Herz gehängt, seine Hoffnungen geknüpft, nicht leichten Sinnes von sich. Ein Edelmann giebt sich nicht ohne die äußerste Nothwendigkeit dem Gerede der Menge preis. Ein Mann, der sich in langen Kriegen, in blutigen Schlachten bewährt, schreitet zu keinem Zweikampf ohne die unabweislichste Pflicht, sein Leben an die Vernichtung des Mannes zu setzen, der den schnödesten Verrath an ihm geübt – da man so ein Weib und ein Kind nicht tödten kann! – Es ist mir hart ans Leben gegangen! Die vernarbte Wunde schmerzt, da ich sie berühre, in diesem Augenblicke. Wäre mein Gewissen nicht rein – die Menschenverachtung, der Unglaube an die Wahrheit irgend einer Liebe, hätten mich zum Menschenhaß getrieben. Die Erinnerung an die Liebe, die ich für Vaterliebe gehalten, die ich gehegt für den Knaben, der nicht der meine war, hat mich durch all die Jahre zweifeln machen selbst an der Wahrhaftigkeit meines eigenen Empfindens. Weder die Verurteilung der Schuldigen, noch die mir seit Jahren wieder bewiesene Gnade meines Königs hatten mir die Lust am Leben wieder gegeben in der liebeleeren Einsamkeit, in der ich gelebt in meinem Hause. Ich that meine Schuldigkeit – Sie haben es ja gesehehen – gegen die Leute, die abhingen. von mir, die von den Verhältnissen auf mich gewiesen waren – aber ich that sie kalten Herzens. Sie waren mir gleichgültig wie alles! Da warf der Zufall – oder sagen wir der Himmel – mir das todwunde Mädchen in die Arme. Ihre Hilfsbedürftigkeit, ihre Schönheit, ihre Verlassenheit rührten mich, ihre Dankbarkeit wendete ihr meine Sorge zu; die Reinheit ihres Herzens erquickte mich, wie den Verschmachtenden der frische Quell, der vor ihm hervorsprudelt, wo er ihn am wenigsten vermuthet. Wie an ein

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