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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Meine Mutter hatte sich erkundigt, was er damit sagen wolle.

‚Ja? was will ich damit sagen?‛ hatte der Graf erwidert. ,Bei ihr, bei Franull, ist alles gleichsam instinktiv. Sie handelt ohne Ueberlegung und trifft meistens dabei das Rechte. Sie beobachtet offenbar sehr scharf, erräth, was man von ihr erwartet und will, macht nach, was sie die Andern thun steht, soweit sie in ihrem jetzigen Zustande es eben vermag, und meine Wirtschafterin und die Diener behaupten, wenn man sie gut anleitete, würde sie ein sehr brauchbares Frauenzimmer werden. Natürlich aber müsse die landstreicherische Alte fort. Sie würden sich wundern, wenn Sie unsere Seiltänzerin sähen! Sie ist im Liegen gewachsen, bei der guten Kost voll und frisch geworden, und im Hause hat alles sich an sie gewöhnt, von der Wirtschafterin bis zu den Kindern der Leute, bis zu den Hunden, die sie charmant zu dressiren versteht! Und das ist freilich auch das Einzige, was sie gelernt hat.‛

Die Mutter fragte, ob sie noch so finster aussehe wie an dem Unglückstage.

‚Ihr Ausdruck ist noch immer auffallend scheu und verschlossen, doch scheint sie anhänglich zu sein. Sie hält sich zu der Magd, zu der Wirthschafterin, die sie gepflegt haben, wie ein Kind oder wie ein junger Hund. Es ist das eben, was ich das Instinktive an ihr nenne. Mir kommt sie ja natürlich selten in den Weg; aber dann fährt sie auf und‛ – der Graf lachte – ‚ich glaube, wenn sie es sich traute, sie würde wie mein Hektor an mir in die Höhe springen. Ich brächte sie mit einem Winke wieder auf das Seil, wenn sie sich darauf halten könnte. Sprechen habe ich sie kaum noch hören.‛

‚Und was denken Sie mit ihr zu thun, Herr Graf?‛ erkundigte sich mein Vater.

‚Man jagt ja einen Vogel, einen Hund nicht fort, wenn er uns ins Fenster geflogen oder zugelaufen ist, geschweige denn solch ein armes, verwildertes Geschöpf. Ich behalte sie eben noch im Schlosse; denn sie ist ja auf den Füßen lange noch nicht fest. Inzwischen will ich den Schulmeister kommen lassen und mit ihm Abrede treffen, daß sie lesen lerne. Sie ist nach den eingezogenen Erkundigungen im achtzehnten Jahr, ist, wie die Alte es angegeben, wirklich protestantisch getauft; da muß man zusehen, daß sie doch auch konfirmirt wird, denn das ist noch nicht geschehen.‛

Und wie der Graf es gesagt hatte, so wurde es gehalten. Am Neujahrstage kam Franull zum ersten Male mit der Wirthschafterin des Grafen nach Benwitz in die Kirche, und weil viele Leute aus der Gemeinde dabei gewesen waren, als sie vom Seil gestürzt, richteten sich aller Augen auf sie, und viele nickten ihr gutmütig zu, obgleich in der großen, schönen, wie eine anständige Magd gekleideten und schüchtern den Graß erwidernden Person die blasse, finstere Seiltänzerin kaum noch zu erkennen war.

Beim Fortgehen aus der Kirche sprach meine Mutter sie an und ermahnte sie zum Guten. Später einmal dankte der Graf ihr dafür, mit dem Bemerken, es komme ja für dies Mädchen vor allem darauf an, daß man es in Reih und Glied stelle mit den Andern; denn bis jetzt bleibe es immer noch in Ausnahmezuständen, wie auch in der Kinderlehre, wo es unter Kindern als Erwachsene wieder eine Ausnahme mache.

Franull kam von da ab regelmäßig in die Kirche; die Leute gewöhnten sich an sie, achteten nicht mehr viel auf sie; nur als sie dann im nächsten Herbste mit den Andern eingesegnet wurde, fiel es auf, daß sie nicht wie sonst die Kleidung der Mägde trug, sondern einen mehr städtischen Anzug wie die Wirthschafterin, und man zog daraus den Schluß, daß man sie ganz im Schlosse behalten und sie zur Hilfe im Hauswesen benutzen werde, wie es auch geschah.

Wenn man zum Besuch in das Schloß kam, so traf es sich zuweilen, daß man Franull begegnete. Einmal, als wir uns schon oben im Vorsaal befanden und der Graf uns entgegenkam, trat sie aus einer Seitenthür mit einem Korb voll Erdbeeren herein. Ich rief sie an, trotz des Grafen Gegenwart, und fragte, wie es ihr gehe.

‚Schön Dank, junger Herr; ich bin gesund und hab’s, ach! so gut!‛

‚Du hast ja ordentlich sprechen gelernt!’ bemerkte meine Mutter, und ohne daß man es Franull geheißen, küßte sie meiner Mutter, dann rasch dem Grafen die Hand, der ihr auf die Backe klopfte, und dann machte sie sich davon.

Meine Mutter war ganz verwundert über sie. Das entging dem Grafen nicht.

‚Ja,‛ sagte er, ‚an dem Mädchen kann man sehen, was rechtzeitige Verpflanzung für das Gedeihen thun kann, wo ein guter Keim vorhanden. Ich versichere Sie, ich habe wirklich Freude daran, es zu beobachten, wie sie vorwärts kommt, wie sie ein ganz anderer Mensch geworden ist; und ich frage mich oftmals, wie es möglich gewesen, daß sie bei dem elenden Landstreicherleben, das sie von je geführt, nicht zu Grunde gegangen ist.‛

Auf der Heimfahrt am Abende sprachen die Mutter und Doktor Hartusius über Franull und über den Grafen; und die Mutter sagte, es sei merkwürdig, wie das Leben oft den Menschen durch Ereignisse zu wandeln wisse, von denen man das durchaus nicht hat vorhersahen können. Seit der Graf die Sorge für Franull, für irgend ein Menschenwesen, wirklich über sich selber genommen, sei er wie erlöst von dem Bann der Abgeschlossenheit, in welchen die Treulosigkeit seiner Frau ihn versetzt; und es müsse ja auch wirklich ein Vergnügen sein, das schöne Geschöpf, die Franull, um sich zu sehen.

‚Das ist’s!‛ meinte der Vater, ‚sie ist zu schön! Wir werden ja sehen, wie der Hase läuft!‛ – Ich verstand damals nicht, was er damit meinen konnte; aber eben deshalb fiel mir an dem Abende die Redensart auf, die der Vater auch sonst wohl gebraucht, und sie blieb mir im Gedächtniß.

Seit der Vater die Domäne gepachtet hatte, waren unmerklich allerlei kleine Veränderungen in unserem häuslichen Leben eingeführt, so daß es weniger einförmig, daß es belebter geworden war als vordem. Den Vater führten seine Geschäfte jetzt mehrmals im Jahre nach Bernau und nach Berlin; wir wurden dann bisweilen mitgenommen. Die Beamten, mit welchen er in Bernau zu thun hatte, unsere Berliner Verwandten, welche wir auf die Weise öfter wiedersahen, kamen auch häufiger zu uns heraus, und es wurde, wie es dem Vater bei seinen Verhältnissen wohl anstand und der Mutter gefiel, ein breites Leben und ein gastfreies Haus geführt. Der Graf aber nahm keine Einladung zu den Gastgeboten an, obschon sein Verkehr mit meinen Eltern immer vertrauter geworden war und beide ihn als ihren Freund betrachteten und hielten. Er besprach mit ihnen, das hörte ich, viele seiner Angelegenheiten; allein von Franull war nicht mehr wie vordem die Rede, und das würde mir vielleicht nicht aufgefallen sein, trotz der neugierigen Aufmerksamkeit, die mir so wenig wie andern Kindern fehlte, hätte ich sie nicht auch in der Kirche vermißt. Als ich der Mutter einmal während des Singens sagte: ‚Die Franull ist ja wieder nicht da!‛ sprach sie leise: ‚Ihre Großmutter ist neulich im Armenhause gestorben.‛

‚Aber dann geht man doch erst recht in die Kirche!‛ wendete ich ein.

Die Mutter tadelte mich, daß ich während des Gottesdienstes spräche, und ich schwieg also. Als ich jedoch nach der Kirche im Fortgehen mit der gleichen Bemerkung wiederkam, wies sie mich gegen ihre sonstige Gewohnheit kurz zurück. ‚Was gehen Dich des Herrn Pathen Leute und die Franull an?‛ sagte sie. ‚Vielleicht hat er sie fortgeschickt.‛

Das war im Sommer, und die Manöver waren wieder einmal in unserer Gegend, also Leben und Bewegung überall und Einquartierung in allen Dörfern und Offiziere in allen Gutshäusern und in allen Schlössern. Es gab viel Herüber und Hinüber zwischen Dambow, Schönfelde und der Domäne, in welcher der Stab der Ziethenschen Husaren lag unter Führung von des Grafen früherem Regimentschef, und mein Vater hatte als Rentmeister von der Domäne dem General dort die Honneurs zu machen. Der General war dadurch auch unser Gast geworden, und als er einmal bei uns gespeist hatte und ich im Zimmer sein durfte, während man den Kaffee einnahm, hörte ich, wie er, von dem Grafen redend, mit Lachen hinzufügte, in aller seiner Menschenverachtung und Einsamkeit habe er sich, wie es heiße, doch getröstet.

Die Eltern sprachen nach wie vor mit großer Freundschaft von dem Grafen; aber es ging etwas vor, das hatte ich gemerkt. Es war etwas anders geworden; und so viel hatte ich heraus, daß ich nicht darnach fragen sollte.

Da, als die Manöver längst vorüber waren, im Herbste, wenige Tage nach meinem elften Geburtstage, zu Ende Oktober – es war ein rauher, grauer und so stürmischer Tag, daß die Aeste an den großen Ulmen vor unserem Hause knarrten und knackten und die letzten Blätter in wildem Wirbel durch die Luft gejagt

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