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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Aber was ist das?! – Wir sind den „Linden“ nahe, dicht beim Opernhaus, dort, wo sich, gegenüber der Universität, die Denkmäler der Helden aus den Befreiungskriegen erheben. Nahe vor uns bilden sich kleine Gruppen; sie wachsen an, dann stieben sie aus einander. Dort ballen sich neue zusammen, immer enger, immer dichter, man sieht die Aufregung in diesen schwarzen Menschenklumpen; eine Frau drückt das Tuch vor die Augen – mein Gott, sollte … man wagt es nicht zu denken, man will es nicht denken; es kann, es darf nicht sein, und doch, jetzt schallt es uns entgegen, dumpf, verhalten, mit ängstlichem Schauer. „Der Kaiser soll soeben gestorben sein!“

Der Kaiser auf dem Todtenbett.

Aber wir weisen ihn zurück, den furchtbaren, den niederschmetternden Gedanken. Dasselbe entsetzliche Gerücht war auch gestern Nachmittag verbreitet und hatte fieberhafte Aufregung hervorgerufen, es wird auch diesmal derselbe Fall sein, und das Mütterchen an unserer Seite wird gewiß Recht behalten, wenn es sagt: „Wer todt gesagt wird, der lebt noch lange!“ Ach, wie gern erfreuen wir uns an diesem trügerischen Hoffnungsschimmer! – Nun sind wir endlich angelangt bei den „Linden“, es ist kurz vor neun Uhr. Welch ein tiefergreifender, erschütternder Anblick: in weitem Viereck stehen ungezählte Menschenmengen um das Palais; ein ernstes, unheilbrütendes Schweigen liegt um das eherne Denkmal des Großen Friedrich ausgebreitet; man hört kein lautes Wort, keinen lärmenden Ton; die Schutzleute in ihren langwallenden schwarzglänzenden Regenmänteln haben ein leichtes Amt; jeder folgt ihrem Wort, keiner übertritt die abgesperrte Grenze. Und auch hier fliegt das Gerücht von Mund zu Mund! „Der Kaiser soll todt sein!“ – und auch hier widerspricht man ihm! „Nein, er ist nicht todt, es ist nicht möglich!“ Und aller Blicke richten sich auf das historische Eckfenster des Parterres, als könnte man dort die theuren, milden Züge des greisen Herrschers hinzaubern, als könnte er erscheinen an derselben Stelle, wo man ihn so oft erblickt, wo man ihm so oft begeistert zugejubelt, wenn mit rauschendem Spiel die Wachtparade vorbeigezogen!

Aber wo richten sich nun die Blicke plötzlich hin, hinauf zum Dach des Palais? Einzelne haben es zuerst bemerkt und nun sehen es all die Tausende. Die Fahne ist eingezogen; die purpurne Standarte weht nicht mehr stolz an ihrer hochragenden Flaggenstange: was bedeutet das? Und wieder schwirrt es von Mund zu Munde: „Der Kaiser ist gestorben!“ und wieder findet diese Kunde keinen Glauben!

Vor dem Eingange des kaiserlichen Palais in der Behrenstraße.

Ein General, es ist ein Flügeladjutant, schreitet die Rampe des Palais herab. Von weither leuchten die rothen Aufschläge des Mantels, die sehnige Figur scheint uns gebückt, aus dem wetterharten Antlitz ist nichts zu lesen. Bereitwillig öffnet sich ihm die Menschenmauer; man will ihn mit Fragen, mit Bitten bestürmen; man wagt es nicht. Da kommt ihm ein Admiral, den Mantel offen, den Dreimaster auf dem ergrauten Haupt, entgegen. Beide sprechen einige Worte und drücken sich ergriffen die Hand, aber nun ist es bei den Umstehenden, Umdrängenden vorbei mit der Scheu vor dem hohen militärischen Rang. „Wie geht es dem Kaiser?“ – „ Ist der Kaiser todt?“ – „Lebt der Kaiser?“ Hundertfach wird es gerufen, gefragt. Und nun, als Ruhe eingetreten, vernimmt man die schweren Worte. „Seine Majestät ist um acht Uhr dreißig Minuten heute früh entschlafen!“ Wie dieser mit thränenerstickter Stimme gesprochene kurze Satz uns das Herz zerreißt, wie mit einem Schlage die Welt um uns dunkel und unglücksschwanger erscheint – wer könnte das wiedergeben!

„Der Kaiser ist todt!“ So hallt es nun durch Berlin und klingt schrill in das entlegenste Gäßchen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_175.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)