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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Zum Gedächtniß Kaiser Wilhelms.

Eine tiefe Trauer und eine laute Wehklage geht durch ganz Deutschland: der allverehrte, allgeliebte Kaiser Wilhelm I. ist nicht mehr! Was, bei dem außerordentlich hohen Alter des greisen Monarchen, unaufhaltsam immer näher und näher drohte, aber immer wieder ferner gerückt erschien durch seine wunderbar kräftige Natur, das ist nun wirklich eingetreten, und wie sehr wir unsere Gedanken gewöhnt zu haben meinten an das Unvermeidliche, dennoch stehen wir im Innersten erschüttert vor der unerbittlichen Wahrheit, daß uns hinfort nicht mehr vergönnt sein soll, unsere Blicke verehrungs- und bewunderungsvoll zu erheben zu der ehrwürdigen Heldengestalt in weißem Haar und weißem Bart, dem geweihten Hort und der sichtbaren Verkörperung unserer nationalen Einheit!

Denn das war Kaiser Wilhelm I. nicht in jenem gewöhnlichen Sinne, wie jeder Monarch der Vertreter und Schirmherr seines Volkes und Staates ist, sondern in einem viel höheren. In ihm verehrte die Nation den starken Begründer und den weisen Erhalter des neuen Deutschen Reiches; durch ihn sah sie sich, dankerfüllt, aus jahrhundertelanger Zerrissenheit und Schwäche erweckt und mit Einem Male zu einem Range unter den Völkern Europas erhoben, von dem wohl die wenigsten unter uns selbst nur zu träumen gewagt hatten, von ihm datirte für Deutschland eine Periode innerer Einigkeit seiner Fürsten und seiner Stämme, wie sie in dem mehr als tausendjährigen Verlaufe der deutschen Geschichte noch nicht dagewesen, und einer Machtstellung nach außen, wie sie in solcher Festigkeit und so dauerverheißend selbst den glänzendsten Zeiten früherer deutscher Kaiser niemals beigewohnt hatte.

Und alles das war ganz wesentlich mit das eigenste Werk und Verdienst des verewigten Kaisers. Er persönlich hatte, unter dem Beirath der sachkundigsten Männer, eines Roon, eines Moltke u. a., jene Neugestaltung des preußischen Heeres in die Hand genommen und durchgeführt, die schon 1866 sich als ein so wunderbares Mittel gewaltigster Schlagfertigkeit bewährte, 1870 aber ganz allein Deutschland vor der Gefahr einer, wenn auch nur zeitweiligen, Besetzung seiner Grenzlande durch feindliche Truppen schützte und den Krieg sofort in Feindesland hinüberspielte. Er war durch die Erfolge seiner siegreichen Waffen und der nicht weniger siegreichen diplomatischen Künste seines großen Ministers Bismarck, dem er das ganze Gewicht der preußischen Macht zur freiesten Verfügung gestellt, der Begründer eines neuen, starken festgegründeten deutschen Reiches geworden. Und, was beinahe noch schwerer, gewiß aber nicht minder verdienstlich war, er verstand es, durch seine Weisheit zu erhalten, was seine Bismarck und Moltke Großes und Glorreiches geschaffen; er verstand es, den lauernden Feinden Deutschlands Furcht vor dessen allzeit bereiter Wehrhaftigkeit, den befreundeten Mächten aber volles Vertrauen zu seiner aufrichtigen Friedenspolitik einzuflößen.

Daher nahten auch ihm, ihrem ehrwürdigen Senior, huldigend Europas Fürsten, große wie kleine; er ward der Stifter und der beherrschende Mittelpunkt eines machtvollen Bundes, an dessen Spitze er die Erhaltung des europäischen Friedens, die er sich selbst zur heiligen Pflicht gemacht, auch andern, wenn nöthig, gebieten konnte.

In Deutschland selbst ward Kaiser Wilhelms Persönlichkeit der alles verbindende, ausgleichende, versöhnende Talisman. In ihm fanden die deutschen Fürsten die sicherste Bürgschaft dafür, daß ihnen nichts angesonnen werden würde, was nicht schlechterdings nothwendig wäre entweder für die Sicherheit und Größe des Reichs oder für die innere Wohlfahrt der Nation. Um ihn scharten sie sich – nicht halb widerstrebend, wie im alten deutschen Reiche so oft die Vasallen um ihren obersten Lehnsherrn, nein, voll Hingebung und Anhänglichkeit, wie getreue Bundesgenossen um das von allen hochgehaltene und verehrte Haupt des Bundes, und er selbst, der edle Greis, begehrte nichts anderes zu sein, als „der Erste unter seinesgleichen“.

Und, wie die Fürsten, so die Völker. Der kältere Norden wie der lebhafter empfindende Süden, sie huldigten mit der gleichen Begeisterung dem allgeliebten Kaiser Wilhelm. Ja selbst in jenen erst neuerlich für Deutschland zurückgewonnenen Landschaften, wo das Gefühl der alten Zugehörigkeit zum Reiche, verdunkelt durch lange Trennung von uns, sich nur schwach wieder regt, selbst dort ward das persönliche Erscheinen des Kaisers allerwärts das Signal zu freudigen Kundgebungen weiter Bevölkerungskreise. Die seltene Mischung echt fürstlicher Hoheit und fast bürgerlicher Einfachheit, die in Kaiser Wilhelm war, bezauberte Alt und Jung, Vornehm und Gering. Daher die zahllosen Kundgebungen der Ehrerbietung und Liebe, die bei jeder Gelegenheit von allerwärts ihm zuströmten – in Wort und Bild, in gebundener und ungebundener Rede, aus Palästen und Hütten daher vor allem jene vielen halbschüchternen und doch treuherzig zutraulichen Sendungen aus den Kreisen der Armen und Bedrängten, ja aus den Kreisen der Jugend- und Kinderwelt, die entweder mit vertrauensvollen Bitten dem hohen Herrn nahten oder auch nur im Drange ihres Herzens ihm die Verehrung der Absender bekundeten, ihm eine kleine Liebesgabe, und wäre es nur ein Strauß seiner blauen Lieblingsblume, zu bieten wagten. Und alle diese Zusendungen fanden bei ihm die gleiche wohlwollende Aufnahme, und allen diesen Bitten gewährte er, so weit es irgend möglich, freundliche Erhörung.

Denn, wie das Volk ihn, so liebte er das Volk. Alle Stände, alle Berufsklassen umfaßte er mit derselben väterlichen Gesinnung. Noch in seinem höchsten Alter war es sein liebster Gedanke, nachdrücklich und nachhaltig für jene große, ehrenwerthe Gesellschaftsschicht zu sorgen, auf deren rühriger Arbeit ganz wesentlich mit der Wohlstand der Nation beruht, und fast mit Bangen mag ihn der Zweifel erfüllt haben, ob noch bei seinen Lebzeiten für ein so schwieriges Beginnen die rechte Form und der wirklich zum Ziele führende Weg gefunden werden möchte.

Kaiser Wilhelm gehörte nicht, gleich seinen berühmten Vorfahren, dem Großen Kurfürsten und Friedrich dem Großen, zu jenen genialen Herrschern, die alles nur durch die eigene Kraft vollbringen und für welche auch die begabtesten ihrer Diener nur ausführende Werkzeuge ihrer selbstschöpferischen Ideen sind. Auch wäre wohl zu dieser Art selbstherrlichen Regiments, sogar eines Friedrich des Großen, weder unsere Zeit noch unser Volk angethan. Aber Kaiser Wilhelm verstand die seltene Kunst, im Kabinet wie im

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_166.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)