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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)


das milchspendende Euter versiegt in der Zeit solcher Noth. Manch eines, welches in so zarter Jugend die harte Kost noch nicht zu vertragen im Stande ist, erliegt dem Mangel. Auch die alten Wildpferde leiden unter der Armuth und Tücke des Winters. Tagelang anhaltende Schneestürme verwehen die Weide, lähmen jenen sonst so freudigen Muth und steigern die Dreistigkeit der Wölfe, welche, wenn sie nicht bereits entkräftete Kulans niederreißen, selbst die noch nicht ermatteten aufs äußerste belästigen und quälen. Sobald aber die Umstände sich wieder zum Besseren wenden, kehrt den wettergestählten, zähen, ausdauernden Geschöpfen die alte Lebensfreudigkeit wieder, und sobald der Schnee zu schmelzen beginnt, treten sie ihre Rückwanderung an, erreichen nach etwa Monatsfrist die Sommerstände, trennen sich hier in die Tabunen oder einzelnen Herden, erholen sich bei der jetzt üppig emporschießenden würzigen Weide in überraschend kurzer Zeit, runden und feisten sich und haben binnen Kurzem alle Noth des Winters vergessen.

(Fortsetzung folgt.)




Vom Cirkus.
Plaudereien von Oskar Justinus. Frei nach Aufzeichnungen von L. Grey. Mit Originalzeichnungen von C. W. Allers.
(Schluß.)


Es giebt Leute, welche behaupten, eine Cirkusvorstellung gleiche der andern aufs Haar und habe man eine gesehen, so könne man Entree und Zeit für eine zweite sparen. Es giebt aber auch solche, die jeden Abend im Cirkus zubringen – die ihm, wenn er den Ort verläßt, am liebsten nachreisen möchten, die unglücklich sind, wenn sie eine hundert Mal gesehene Nummer versäumen müssen. Und wenn man nun die unbeschäftigten Künstler und Angestellten während einer Vorstellung beobachtet, mit welchem aufgeregten Interesse sie an jeder der tausendfach schon gesehenen Leistungen ihrer Kollegen theilnehmen: da kommt man wohl zu dem Schlusse, es müsse doch unter dieser scheinbaren Gleichartigkeit ein dauernder Wechsel vorhanden sein, oft nicht so leicht erkennbar für den ungeübten Sinn der nur aufs Ganze gehenden Menge, wie interessant für den Kenner und um so interessanter, je öfter man ihn beobachtet und studirt.

Im Aeußern also fast überall das nämliche Programm. Etwa sechzehn – bei Parforcevorstellungen bis zwanzig Einzelnleistungen, die meisten Reiterproduktionen. Die grand voltige à la Richard, das Apportirpferd Abdallah – das Springentrée der beliebten Klowns – der grand travail gracieux der Groteskreiterin – Lady Hamilton und Achilles (eine feine Familie), englische Vollbluthengste in ihren großartigen Konkurrenzsprüngen – das Auftreten der Königin des Wassers; der Königin der Luft (als ob man in der Luft auftreten könnte) – die sensationellen Leistungen der dressirten Elephanten, Gänse, Auerhühner, Nashörner – das non plus ultra eines auf dem Seil laufenden Pferdes – die komischen Intermezzos der Klowns – die Quadrille in Rokoko – zum Schluß große Pantomime mit Ballet und elektrischem Feuerzauber.

Ich gehöre nicht zu jenen Specialisten mit dem subtilen Pferde- und Specialitätenverstand, um das Dargebotene in allen seinen Details zu würdigen, einzelne Abweichungen der heutigen Leistung gegen die gestrige herauszufinden, das Schwierige vom Mittelschweren, das Mittelschwere vom Leichten zu unterscheiden: aber ich muß sagen, daß mir die Stunden im Cirkus noch jederzeit großes Vergnügen bereitet haben. Wie ein Abend im Theater auf Geist und Gemüth, so wirkt ein Abend im Cirkus auf die Sinne. Freilich kann ich nicht Rechenschaft geben, wie viel die rauschende Musik mit ihrem eigenartigen Rhythmus, das Knallen der langen Peitschen, die plötzlichen Pausen, die kurzen ermunternden Anrufe, das Jagen und Treiben im Kreise, das Schlagen des aufstiebenden Sandes, wie viel die sammetweiche glänzende Haut, das Feuer der schnaubenden schönen Thiere, der Muth, der Ehrgeiz, die Treffsicherheit, die Elasticität der Künstler, die kleidsamen, bald sportmäßigen, bald nationalen, bald phantastischen Kostüme, die Anmuth und Schönheit der Artistinnen – und eine gewisse Schönheit tragen sie alle in der kurzen Blüthe ihrer Produktionsnummer – an dieser eigenartigen mächtigen Wirkung theilhaben.

Wer vieles bringt, wird jedem etwas bringen. Man ist längst davon zurückgekommen, den Schwerpunkt der Aufführungen auf die Reitkunst zu legen; Akrobaten, Klowns, Specialitäten, Pantomimen stehen dieser ebenbürtig zur Seite. So kommt eben jeder Geschmack zur Befriedigung.

Wer da hinauszog, um das Gruseln zu lernen – und es sind nicht die Wenigsten, welche der Haut-gout einer recht halsbrecherischen Produktion anzieht – der findet ausreichend Gelegenheit an dem, was sich hoch über unseren Häuptern in der Rotunde vollzieht, zu welcher Leistung eifrige Diener in Livrée Mastbäume aufhissen, Taue verstauen und ein System von Netzen über die Manege ziehen, mit einer Eilfertigkeit, als gelte es die Vorbereitungen zu einem Auto da fé. Und wenn endlich die jungen Artistinnen in ihrem Feenkostüm hereintänzeln und sich in graziösen Stellungen, wie wir sie vielleicht im Märchen empfunden, auf alten Bildern geschaut, nie aber im Salon bemerkt haben, vor dem Publikum verneigen, wenn sie mit jugendlichem Elan nach den Masten eilen, wie die Kätzchen hinaufklettern, im Nu sich in schwindelnder Höhe umwirbeln, an einander hängen, sich verkürzen, wie die schwebenden Engel des Correggio und sich wieder strecken wie die Gestalten der Byzantiner, wie sie in diesem Augenblick niederzusausen scheinen als fallende Meteore, im nächsten im Fluge mit der Sicherheit eines Vogels ihren Halt gewinnen, wie sie, umwallt von Lockenfluth, vom luftigen Sitze des schwebenden Recks hinunterschauen und lächelnd Kußhände der athemlos folgenden Menge herabwerfen: dann muß auch der Grübler, welcher in der Theorie solche schwindelerregende Leistungen von sich weist, die Hände applaudirend regen, hingerissen von der unmittelbaren Wirkung des Geschauten.

Und wessen Herz solch lieblichen Eindrücken mit Grusel-Haut-gout verschlossen ist, wer aber leicht und gern lacht, für den ist in den komischen Intermezzos ein ausreichendes Material geboten.

Es giebt allerdings Menschen, die für den Humor der Klowns keine Organe besitzen – die nur lächeln können, nicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_155.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)