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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

„Entre nous, liebste Gerold,“ flüsterte diese; „Hoheit wünschten, daß der Herzog heute Nachmittag den Thee bei ihr nehme, und er lehnte es rundweg und mit einer Kürze ab, die fast unfreundlich genannt werden kann. – ‚Wir wollen musiciren,‘ sagte Ihre Hoheit schüchtern, ‚und ich glaubte, mein Freund, Du habest Dich gerade im letzten Winter sehr für Gesang interessirt? Ich meine, Du hast die kleinen musikalischen Abende bei Mama niemals versäumt?‘ – Seine Hoheit antwortete darauf: ‚Ja, ja, gewiß, meine Theure – aber – augenblicklich – ich habe Palmer zu einem Vortrag befohlen, und da das Wetter besser, so will ich mit Meerfeld auf den Anstand heute Abend; Du weißt, der Arzt hat mir dringend gerathen, so viel frische Luft wie möglich.‘“

Claudine drehte ihr Notenheft in den Händen; sie war roth geworden und unendlich peinlich berührt durch diesen Bericht. „Wollen Sie mich Ihrer Hoheit melden?“ fragte sie.

„Sogleich, liebstes Geroldchen; lassen Sie mich Ihnen nur noch erzählen: die Herzogin wandte ihm den Rücken und sagte ganz leise: ‚Du willst nicht, Adalbert!‘ Und dann ist er ohne Antwort fortgegangen, und sie ist zu tausend Thränen aufgelegt.“

Die fürstliche Frau saß an ihrem Schreibtisch, als Claudine eintrat, und streckte ihr die Hand entgegen. „Es ist, als ob der Sonnenstrahl, der eben da draußen aufleuchtet, in mein Zimmer geflogen käme mit Ihnen, beste Claudine,“ sprach sie liebenswürdig mit ihrer matten klanglosen Stimme. „Sie glauben nicht, wie einsam man sich bisweilen fühlen kann unter Menschen, selbst unter denjenigen, die uns alles sein sollen – ja sogar sind. – Ich habe vorhin in beängstigender Unruhe mein Tagebuch geholt und darin geblättert, da ist mir leichter geworden. Ich habe doch schon viel, sehr viel Glück erlebt; das tröstet mich und macht mich dankbar. Nehmen Sie Platz; sind das die Lieder, von denen ich sprach?“ Sie ergriff die Noten und blätterte darin. „Ah, richtig – Liebestreue! Sie sollen es mir nachher singen, liebstes Fräulein von Gerold; jetzt möchte ich bitten, eine kurze Spazierfahrt mit mir zu machen; ich sehne mich unaussprechlich nach frischer Luft und – Gott sei Dank! – der Himmel hat sich gelichtet.“

Als die Damen nach einer Stunde zurückkehrten, nahmen sie den Thee, und dann trat Claudine an den Flügel. Die Herzogin lag auf ihrer Chaiselongue und lauschte; die alte Hofdame saß am Fenster hinter der fürstlichen Frau und achtete auf die leiseste Bewegung ihrer Gebieterin.

Claudinens schöne weiche Altstimme schwebte durch den leicht dämmerigen Raum; sie hatte zwar die Noten da vor sich stehen, aber sie brauchte sie nicht. Und so reihte sich Lied an Lied. Sie sang mit einer traurigen Lust; der kostbare Flügel stand merkwürdigerweise in dem nämlichen Zimmer, an der nämlichen Stelle, wo einst ihr Instrument gestanden. Das volle süße Glück ihrer Jugend ward lebendig in dieser Umgebung; sie wußte nicht, wie es kam, daß Joachim’s Lieblingslied von ihren Lippen floß:

„Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Klingt ein Lied mir immerdar –
O wie liegt so weit, o wie liegt so weit,
Was mein, was mein einst war –“

Sie sang die traurige einfache Weise mit innigem Gefühle, und dann brach sie inmitten der letzten Strophe mit einem Tone ab, der wie gebrochen klang, und nach ein paar falschen Accorden, welche die begleitende Hand noch mechanisch griff, ward es still.

Dafür scholl es aber weich und leise durch das Gemach: „Adalbert, ich wußte ja, Du würdest kommen!“

Claudine hatte sich erhoben und starrte zu der hohen Gestalt hinüber, die sich eben zu einem Kuß herabneigte auf die Hand der Gattin. Nun verbeugte sie sich und faßte nach der Lehne ihres Sessels, als müßte sie sich stützen.

„Singen Sie weiter, Fräulein von Gerold,“ bat der Herzog; „es ist lange her, seitdem ich die Freude hatte, Sie zu hören.“

Er saß im tiefen Schatten neben dem Lager seiner Gemahlin, den Rücken dem Fenster zugewandt. Claudine sah sein Gesicht nicht; sie wußte aber, daß der letzte rosige Schein der Abendsonne sie streifte. Das machte sie noch verwirrter. Sie suchte sich gewaltsam zu fassen; aber als sie einsetzte, klang die Stimme verschleiert und kraftlos; es war, als schnüre ein Krampf ihr die Kehle zu. Sie stammelte eine Entschuldigung und erhob sich.

„Wie eigenthümlich!“ sagte die Herzogin. „Haben Sie schon früher daran gelitten, liebste Claudine?“

„Niemals, Hoheit!“ stotterte sie der Wahrheit gemäß.

„Es giebt derartige nervöse Erscheinungen,“ bemerkte der Herzog ruhig; „vielleicht hast Du Fräulein von Gerold bereits zu sehr angestrengt?“

„O, das wäre möglich; verzeihen Sie, meine liebe Claudine, und ruhen Sie sich aus,“ rief sichtlich erschreckt die Herzogin. Und sie winkte das junge Mädchen zu sich auf das kleine Sesselchen, von dem soeben der Herzog aufgestanden war, um fast unhörbaren Schrittes im Zimmer auf- und abzugehen.

„Setzen Sie sich so, daß ich Ihr Gesicht erblicken kann,“ bat sie. „Wirklich, Sie sehen angegriffen aus; aber jetzt kommt Ihre Farbe wieder. Mein Gott, ich glaube fast, Sie haben sich vor dem plötzlichen Eintritt des Herzogs erschreckt! – Adalbert!“ lachte sie und bemühte sich, ihren Kopf zu wenden – er stand in diesem Augenblick hinter ihrem Sofa. „Du wirst schuld an diesem Verstummen sein – o Du böser Mann, was richtest Du für Sachen an!“

Unwillkürlich hatte Claudine die Augen zu dem Angeredeten erhoben, um sie im nächsten Moment tödlich erschreckt zu senken – da war er ja wieder, dieser heiße, flehende Blick! Ueber das Haupt der Gattin hinweg war er zu ihr geflogen, indeß seine Stimme so ruhig erklang: „Es sollte mir leid thun, gnädiges Fräulein; ich kann mir aber nicht denken, daß mein Erscheinen hier etwas Erschreckendes, Ungewöhnliches haben soll. Ich –“

„O gewiß nicht, Hoheit,“ erwiderte Claudine laut und richtete sich empor, „ich war in dem Augenblick ermüdet, ich hatte ein wenig Kopfschmerz – es ist mir jetzt viel besser.“

„Um so besser!“ lächelte die Herzogin, „und nun wollen wir plaudern. Du bist so stumm, Adalbert; wie kam es, daß Du Dein Jagdvergnügen aufgabst? Erzähle! War es wirklich nur, weil Du diesen Abend bei mir sein wolltest?“ – Und sie folgte ihm, wenn er wieder an ihr vorüberschritt, mit glückseligen Augen, und ohne eine Antwort abzuwarten, plauderte sie weiter: „Denke Dir, Adalbert, der Erbprinz hat ein Gedicht gemacht, seine ersten Verse; der Doktor ließ es mir heute zugehen; er hat es in seinem Lateinheft gefunden; willst Du es lesen? Liebste Claudine, dort, auf meinem Schreibtisch unter dem Briefbeschwerer – nein, dort unter dem mit der Statuette des Herzogs. Danke sehr; würden Sie es uns vorlesen? Es ist so kindlich geschrieben und so ernst empfunden.“

Claudine nahm das Blatt, trat zum Fenster und las beim sinkenden Tageslicht die großen kinderhaften Schriftzüge:

„Wenn ich ein Mann erst werde sein,
Hab’ ich ein Wörtlein mir erkoren –
Das schreibe ich ins Herz mir ein,
Daß niemals werde es verloren:
Treu will ich sein, das ist mein Wort,
Treu meinem Volk, treu meinem Gott,
Treu meinen Freunden immerfort;
Treu meiner Pflicht, mir selber treu,
Daß treu stets meine Treue sei!“

Claudine konnte das Gesicht der Herzogin nicht erblicken; aber sie sah, wie sie die Hand nach dem Gatten ausstreckte, und hörte, wie eine leisbebende Stimme flüsterte: „Dein Sohn, Adalbert!“ Und laut fragte sie: „Ist es nicht köstlich?“

Er hatte sein Umherwandern eingestellt. „Ja, es ist köstlich, Elise; möge der liebe Gott ihn so führen, daß es ihm niemals schwer falle, die Treue zu halten.“

„Das kann nicht schwer fallen, Adalbert, niemals!“

„Niemals?“ fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

„Niemals! – Was sagen Sie, Claudine?“

„Hoheit, es kann Fälle geben,“ begann das schöne Mädchen, „wo es einen schweren Kampf kostet, die Treue zu halten.“

„Aber dann ist’s keine Treue, die durch Liebe bedingt wurde,“ unterbrach die fürstliche Frau und ihre Wangen wurden heiß; „dann ist es eine künstliche Treue.“

„Ja,“ sagte der Herzog halblaut; sie klang eigenthümlich, diese einfache Bestätigung.

„Dann ist’s eben keine Treue, dann ist’s Pflichtgefühl,“ erklärte die Herzogin eifriger.

„Treue in der Pflicht – sie ist vielleicht der höchste Grad der Treue, Hoheit,“ sprach Claudine sanft.

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