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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Christenthum hat diese auf äußeres Gepränge gerichteten Feste allmählich ausgelöscht. Man hatte ernsteren Problemen nachzujagen, als der Veranstaltung immer neuer Volksbelustigungen, und auch der in einzelnen Händen und Städten aufgehäufte Reichthum war zusammengeschmolzen. Aber, wenn auch die Stätten

Der „alte Renz“ in der Probe.

der glanzvollen Rennen und equestrischen Künste zerfielen, das Interesse für das Pferd, dieses liebste, klügste und edelste Hausthier, war niemals ausgestorben. Anstatt der Massenentfaltung war es nun die übrigens auch im alten Rom zu unglaublichster Vollkommenheit gebrachte Dressur, welche das Volk entzückte. Vielleicht waren es die Enkel jener brotlos gewordenen Cirkushelden oder Gladiatoren, die mit indischen und griechischen Gauklern über die Alpen zogen, bei Kirchenfesten und auf Jahrmärkten ihre armselige Wagenburg anhielten und in abenteuerlicher Tracht als Kunstreiter mit aufgeputzten Pferdchen, als Herkulesse und Seiltänzer das Einerlei des mühevollen Lebens erhellten. Die sogenannten Paardenspeeler, deren gelehrte Gäule mit ihren Hufen die Stunden verkünden, Zahlen rathen und Taschentücher apportiren konnten, deren Abbildungen wir auf den Volksfesten und Jahrmärkten von Ostade und Teniers begegnen, bildeten den Uebergang zu den englischen Reitern, deren Vorstelligen dem modernen Cirkus unmittelbar vorangingen.

Dieser ist ein ganz junges Kind unserer Kultur und hat noch kein Greisenalter erreicht. François Blondin, ein intelligenter und unternehmender Franzose, nicht zu verwechseln mit seinem Namensvetter, der die Niagarafälle auf gespanntem Seil überschritt, aber vielleicht nicht weniger kühn als dieser, hatte vor über sechzig Jahren zum ersten Male die Idee verwirklicht, die versprengten Trümmer fahrender Künstler, die bis dahin vereinzelt, auf freien Plätzen, ihr Leben fristeten, in wahrem Sinne des Wortes unter einem Dache zu vereinigen. Was bis dahin, mit


Reiterin und Klown.

armseligen Requisiten, kämpfend mit Regen, Indolenz und Chikane der Ortspolizei, in kleinen Ortschaften sich mühsam durchgeschlagen, trat nun in Blondin’s Grand cirque Olympique selbstbewußt zu einem großartigen, noch nicht dagewesenen Schauspiele zusammen, mit dem er ganz Europa durchzog, von Fürsten protegirt, von Vornehmen gehätschelt, vom Volke angestaunt. Die Pracht der Antike schien aber auch aus dem Grabe wieder auferstanden. Reitergefechte, Wagenrennen, Kampfspiele, gymnastische Produktionen, alles eingeleitet durch eine pomphafte Kavalkade der phantastisch kostümirten Truppe: das war ein Unternehmen, welches binnen wenigen Jahren seinen Erfinder, einen circensischen Napoleon, auf den Gipfel des Ruhmes und zu dem Besitze von Millionen emporhob und ihn, wie diesen, als seine Pläne ins Unermeßliche stiegen, unter seinen Trümmern begrub. Sein riesiges Material, sein kostbarer Marstall kam unter den Hammer, und nach kaum zehnjährigem Glücksrausch starb er – in einem öffentlichen Krankenhause von Brüssel.

Nach Blondin’s Vorgehen schossen Cirkusse wie Pilze in die Höhe. Brülloff, Wullenweber, Franconi, Plége, Bazola, später Wollschläger, F. Loisset, Ciniselli, Dejean, Blennow und Renz. Ein Theil dieser kühnen Unternehmer verbrannte sich wie Ikarus nach kurzem Schweben die Flügel. Wenigen war es, wie Wollschläger, vergönnt, in hohem Alter, fern den Geschäften, auf seinen Lorbeern auszuruhen. Einer steht noch mitten in der Strömung, hält mit straffer Hand die Zügel seiner zwölf dressirten Hengste, wie die seines ausgebreiteten ungeheuren Geschäftes zusammen: das ist Renz. Auf unserer Vignette sehen wir den „alten Herrn“ in der Probe sitzen und mit scharfen Augen die Leistungen eines vielleicht gerade vorgeführten Pferdes mustern. Hinter ihm sitzt sein Sohn, welcher gerade die Regie führt; vor ihm steht sein Schwiegersohn Hager, der berühmte Schulreiter, und neben Renz sehen wir seine Enkelin Klothilde Hager. So gewinnen wir hier einen Einblick in das Privatissimum eines Mannes, von dem man schon in der Kindheit erstaunlich viel hat reden hören. Er ist gewissermaßen eine mythische Person geworden, und wenn man den hohen Mann mit dem wetterbraunen Gesicht, dem energischen Ausdruck, dem starken Schnurrbart und den dunklen Augen noch so rüstig an der Arbeit sieht, will man kaum seinen Augen trauen. Wenn man im alten Rom die Kinder mit dem Rufe „Hannibal ante portas" einschüchterte, so läßt die Nachricht „Renz kommt“ die Herzen höher schlagen, aber nicht nur die der Kinder, sondern vieler Tausende, die sich für die Personalien der zwei- und vierbeinigen Künstler des Cirkus eben so warm interessiren, wie die Theaterfexe für die Besetzung einer Rolle. Die Sage hat sich bereits seiner Persönlichkeit bemächtigt. Vom Seile, das er zwischen Baumwipfeln aufspannte, vom Besitze eines alten lahmen Schimmels und einer abgetragenen Stallmeisteruniform erzählt sie. Dann soll er, lange nachdem „die Hussiten lagen vor Naumburg“, im Jahre 1840 zum ersten Male daselbst vor einer primitiven Marktbude mit Wohnwagen das Banner mit der stolzen Inschrift „Cirkus Renz“ haben flattern und herzzerreißende Locktöne durch eine als Reliquie bis heutigen Tages verwahrte Trompete haben erschallen lassen. Wie um die Wiege Homer’s sich sieben Städte Griechenlands stritten, so werden einst die Städte, wie Berlin, Wien, Hamburg, Breslau, Königsberg, wo seine polygonen Tempel stehen, um seine Landsmannschaft buhlen. Wie die Kaiser des weiland heiligen römischen Reiches in ihren Landen umherreisten und bald in dieser,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_141.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)