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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)


des Menschen. Mit dem Wanderhirten der Steppen Afrikas zieht der Löwe von Ort zu Ort; an die Sohlen der geschlagenen heimwärtsflüchtenden Heere Napoleon’s hefteten sich die russischen Wölfe, den unglücklichen Flüchtlingen bis in das mittlere Deutschland nachfolgend. Fischottern unternehmen Landreisen, um von einem Flußgebiete in ein anderes zu gelangen; Luchse und Wölfe durchstreifen im Winter zuweilen auffallend weite Strecken. Durch derartige Reisen tritt eine Veränderung oder Verschiebung der Aufenthaltsorte ein; eine Wanderung im eigentlichen Sinne des Wortes aber findet gleichwohl nicht statt. Auch ist es nur in Ausnahmefällen die Noth, welche wir als treibende Ursache aller wirklichen Wanderungen anzunehmen haben, vielmehr ein augenblicklich zur Geltung kommendes Verlangen, welches derartige Streifzüge veranlaßt.

Anders verhält es sich bei denjenigen Säugethieren, welche jährlich mehr oder weniger zu derselben Zeit ihren Aufenthaltsort verändern und unter Umständen ziemlich weit entlegene Gebiete aufsuchet, von denen aus sie wiederum zu einer bestimmten Zeit nach ihren früheren Wohnsitzen zurückkehren. Sie wandern; denn sie ergreifen nicht eine zufällige Gelegenheit, sondern gehorchen bewußt oder unbewußt zwingender Nothwendigkeit.

Grund und Ursache aller wirklichen Wanderungen der Säugethiere ist in erster Reihe ein bestimmt ausgesprochener, entschieden sich geltend machender Wechsel der Jahreszeiten. In Ländern eines ewigen Frühlings finden eigentliche Wanderungen nicht statt, weil die Nothwendigkeit hierzu nicht vorliegt. Der Sommer muß dem Winter gegenüberstehen, gleichviel ob letzterer durch Frost und Schnee oder durch Gluth und Dürre regiere; der Mangel muß mit dem Ueberflusse wechseln, wenn das träge Säugethier zum Reisen, zum Wandern sich entschließen soll.

(Fortsetzung folgt.)


Vom Cirkus.
Plaudereien von Oskar Justinus. Frei nach Aufzeichnungen von L. Grey. Mit Originalzeichnungen von C. W. Allers.

Man braucht weder Wolfgang von Goethe noch Gustav Freytag zu heißen, um in seinen Kinderjahren von dem Anschauen des ersten Theaters einen mächtigen Eindruck für das ganze Leben zurückzubehalten. Aber es gab noch einen mächtigeren – wenigstens für mich, der zu jenem im Zahlenverhältnisse stand, wie vier zu zwei, insofern, als hier vierbeinige Künstler jene zweibeinigen ersetzten: die spanischen Reiter. Wenn diese – englische Reiter oder noch richtiger Bereiter ist wohl ihr allgemeiner Name – in die Stadt eingezogen, waren alle normalen Lebensbedingungen bei uns Kindern aufgehoben. Wir aßen nicht, wir tranken nicht, wir schliefen nicht. In einer fieberhaften Aufregung trieben wir uns – in normalen Zeiten oft wegen unserer Langschläferei gescholten – vom ersten Sonnenstrahl bis zum Auslöschen der quer über die Straßen hängenden Oellaternen im Freien herum. Da gab es immer etwas zu sehen: man kam stets auf seine Kosten. Bald ein Herr mit großem Künstlerhute der in einem entzückenden, von Ponies bespannten Wägelchen kutschirte, bald einige fremde Damen, die Schaufenster besichtigten und eine Sprache sprachen, die keiner von uns verstand. Dann wieder die vier weißen Pudel, welche wahre Wunder von Gelehrsamkeit sein sollten und alle Mittage spazieren geführt wurden. Endlich ein Herold auf gezäumtem hohen Schimmel, in Wappenrock und Barett, Schritt vor Schritt durch die Straßen dahinreitend, von Zeit zu Zeit in die mit buntem Gehäng gezierte Trompete blasend und den angesetzten langen schwarzen Bart mit den Fingern an das Kinn drückend. Draußen aber, auf weitem öden Platz, der sonst nur zum Drachensteigen und Schuttabladen benutzt zu werden pflegte, erhob sich das für unsere Kinderbegriffe unermeßliche Zelt, aus schmutzgrauer Leinwand, durch welche tausendfacher Lichtschein schimmerte. Aus ihrem Bereiche drang eine zauberhafte Musik von Horn, Flöte und Trommel heraus und erklang der Rhythmus von Pauke und Becken und das Getrampel der den Sand schlagenden Hufe, hörte manchmal mitten im Takte auf und fing eben so unvermittelt wieder an. Selig der, welcher bei der ältlichen Dame an der Kasse so ohne weiteres sein Billet in Empfang nehmen und hinter dem Leinwandvorhang verschwinden konnte! Beneidet wurde schon, wem es gelang, eines der vielen natürlichen oder künstlich erweiterten Gucklöcher in der Leinwand auszuspähen und in schwierigster Attitüde, hinter den beweglichen Rücken der Zuschauer ab und zu einen schüttelnden Pferdekopf hin- und wiedersausen zu sehen.

Den Zauber, den die Romantik des Cirkuslebens auf die leicht entzündbare Phantasie der Jugend und – sagen wir es getrost – auch auf die „oberen Zehntausend“ der neuntausend Einwohner zählenden Provinzialstadt ausübte, hat sie noch bis auf den heutigen Tag behalten. Allerdings ist man in seinen Ansprüchen verwöhnter geworden – man verlangt immer wieder Neues, Sensationelles: aber im Allgemeinen ist es mit dem Unterschied in den Leistungen nicht gar so weit her, und im Vergleich zu dem durch die raffinirtesten, aufregendsten Schaustellungen verwöhnten römischen Volke, bei dem sich Kaiser und Magistrate durch panem et circenses, Brot und Cirkusspiele, einzuschmeicheln suchten, sind wir ja heute noch die reinen Kinder.

Der antike Cirkus oder Hippodrom, wie sein Urbild in Griechenland hieß, war allerdings nicht ein Cirkus in unserem Sinne; vor allem war er kein Kreis, sondern als Schauplatz für Roß und Wagenrennen lang und schmal. Der Circus maximus in Rom hatte eine Breite von 130, eine Länge von 640 Metern und faßte auf seinen Marmorbänken in der späteren Zeit 385 000 Zuschauer. Die Carceres, jene Wagenschuppen, aus denen die wettfahrenden Gespanne in die Arena stürmten, waren aus Marmor; ihre kunstvollen Auslaufthore öffneten sich durch ein gemeinsames Seil in den Händen des in der Nähe thronenden Beamten. Rechts und links erhoben sich Thürme mit schmetternden Musikbanden. Die Spina, jene der Länge nach den Raum theilende niedere Wand, war aus Marmor und zeigte kunstvolle Reliefs. Die Metae, jene Zielsäulen, bei denen die jagenden Gespanne zu wenden hatten, waren aus vergoldeter Bronze. Götterbilder, Obelisken, Heiligthümer, Mastbäume und Fahnen – die vierfach bespannten Wagen, jeder in einer andern Farbe, weiß, roth, blau oder grün – dann wieder die Faust- und Ringkämpfe, die militärischen Schaustellungen, das von vornehmen berittenen Knaben ausgeführte Trojaspiel in leichter Rüstung – endlich die Schlachten, in denen tausend Bewaffnete, verschiedene Nationalitäten vorstellend und fünfzig für den Krieg dressirte Elefanten durch einander wogten: das war in der That ein Anblick für Götter. Und wirklich fühlte sich dieses Volk bei seinen Lustbarkeiten, in seiner uneingeschränkten Machtfülle und seinem launenvollen Uebermuth als Herr der Erde, die all ihren Reichthum und Glanz zu Gunsten der ewigen Stadt hingeben mußte.

Seit die letzten circensischen Spiele in ihrer Pracht und Kunstentfaltung vorübergerauscht, ist ein Jahrtausend verflossen. Das mehr auf Verinnerlichung, auf Frieden des Herzens hinzielende

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_140.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)