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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

der eindringenden Menge. Mit Mühe konnte die deutsche Frau vor der Wuth der von Aufregung und Wein trunkenen Barrikadenkämpfer gerettet werden. Das Bild Ludwig Philipp’s im Sitzungssaal wurde von hundert Kugeln durchbohrt, der Thron zu Füßen der Julisäule zertrümmert, endlich nach wüsten Orgien des souveränen Straßenpöbels am 27. Februar die Republik proklamirt.

August von Rochau, der in seiner Geschichte des Julikönigthums die günstigen Seiten der Regierung Ludwig Philipp’s mit Wärme hervorzuheben pflegt, kann nicht umhin, auf die merkwürdige Thatsache hinzuweisen, daß der Anhang des Königs und des Hauses Orleans schon am 25. Februar so völlig zerstoben war, wie wenn es nie eine orleanistische Partei gegeben hätte. Während Karl X. von der Trauer und der Treue der Legitimisten ins Exil begleitet wurde, folgte dem durch die Februartage entthronten König höchstens ein rein menschliches Mitleid. Die Erklärung dieser Thatsache, meint Rochau, dürfe aber nicht darin gesucht werden, daß die Juliregierung schwerere Schuld auf sich geladen oder mehr Feinde gehabt hätte, als das Königthum der Restauration.

„Die legitimistische Hingebung an die Bourbons war eine Glaubenssache und ganz unabhängig von den persönlichen Eigenschaften, politischen Leistungen, von Glück und Unglück der rechtmäßigen Dynastie; die orleanistische Gesinnung dagegen ging von einer politischen Berechnung aus und mußte also, der Natur der Sache nach, mit der Richtigkeit dieser Berechnung stehen und fallen; der Legitimismus war Schwärmerei, der Orleanismus war Politik.“

Als „Graf von Neuilly“ ließ sich Ludwig Philipp in Claremont in der Grafschaft Surrey nieder. Hier starb er auch am 26. August 1850; im naheliegenden Weybridge fand er die letzte Ruhestätte.

Zwei Söhne des Königs, der Prinz von Joinville und der Herzog von Aumale, standen während des Februaraufstandes in Algier, jener als Admiral der Mittelmeerflotte, dieser als Statthalter und Befehlshaber einer ansehnlichen Armee. Es wurde in Paris befürchtet, daß sie sich weigern würden, die im Hôtel de Ville eingesetzte provisorische Regierung anzuerkennen. Als jedoch der Astronom Arago, der in diese Regentschaft gewählt worden war, die Prinzen aufforderte, um der Ruhe des Vaterlandes willen sich der Macht der Verhältnisse zu fügen, legten beide das Kommando über ihre Truppen, auf deren Ergebenheit sie ja doch nicht zählen konnten, nieder und begaben sich zu ihrem Vater nach England.

Diese Gefahr war also glücklich abgewendet, aber Bürgerblut floß noch in Strömen, als in den Junitagen die Socialisten versuchten, an Stelle der Trikolore die rothe Fahne aufzupflanzen, statt der Konstituante einen Wohlfahrtsausschuß einzusetzen, statt der konservativen Republik die Anarchie zu proklamieren. Nachdem endlich Cavaignac das Proletariat niedergekämpft hatte, wurde nicht dieser Retter der bürgerlichen Gesellschaft, sondern der von Ludwig Philipp als ungefährlicher Abenteurer betrachtete und behandelte „kleine Neffe des großen Oheims“, Ludwig Bonaparte, zum Präsidenten der Republik ernannt; der populäre Name hatte bei dem durch das allgemeine Stimmrecht plötzlich zu politischer Uebermacht gelangten Bauernstand den Ausschlag gegeben. „Im Angesicht Gottes und des französischen Volkes“ gelobte Bonaparte der demokratischen Republik unverbrüchliche Treue. Wer die Geschichte Frankreichs kannte, mochte wohl nicht überrascht sein, als nach dem blutigen Staatsstreich vom 2. December 1851 der „Prinzpräsident“ Bonaparte unbeschränkte monarchische Gewalt erlangte, am 2. December 1852 der „erbliche Kaiser“ Napoleon III. feierlichen Einzug in die Tuilerien hielt.

Wie der neue Imperator gegen alle widerstrebenden Elemente mit beispielloser Härte vorging und die Gesellschaft, wie das Staatsleben aus den Fugen riß, so verfuhr er auch schonungslos gegen das Haus Orleans. Eine Verordnung vom 22. Januar 1852 verhängte über alle Besitzungen, die Ludwig Philipp auf seine Kinder überschrieben hatte, die Konfiskation, da das Privateigenthum der Könige vom Staatsschatz nicht getrennt werden könne. Nach dem Urtheil der bedeutendsten Juristen konnte darin nur eine brutale Gewaltmaßregel erblickt werden; da aber die in den „Idées Napoléoniennes“ so gefeierte Gleichheit des Rechts für Alle niemals so gänzlich verschwunden war, wie in den Tagen des dritten Kaiserreichs, blieb der Protest der Orleans einfach unbeachtet. Sie mußten auch mit ansehen, wie alle Fürsten Europas, zumal Alexander II., mit dem Kaiser der Franzosen wie mit einem lieben Freund und Bruder verkehrten, während Zar Nikolaus niemals aufgehört hatte, seine Geringschätzung des „Kronenjägers“ Ludwig Philipp an den Tag zu legen.

Dagegen bildete sich wieder eine orleanistische Partei in Frankreich selbst in Folge der vielen Mißgriffe und Uebergriffe Napoleon’s. Legitimisten, die in Erwägung der unbesiegbaren Gleichgültigkeit und Lahmheit Heinrich’s V. die Hoffnung auf eine Restauration der Bourbons aufgaben, – Imperialisten, welche der militärisch polizeiliche Terrorismus des dritten Kaiserreichs ernüchtert hatte, – Republikaner, welche nicht länger im Schlepptau fanatischer Socialisten bleiben wollten, vereinigten sich in dem Wunsche, Frankreichs Thron wieder auf den Boden der Volkssouveränetät gestellt und mit einem Orleans besetzt zu sehen.

Daß Napoleon III. selbst die Bedeutung dieser feindlichen Bestrebungen nicht unterschätzte, beweist das geflügelte Wort über die Orleans, das er in Umlauf setzte: „Sie sind geborene Verschwörer.“ So lange er regierte, gelang es den Söhnen und Enkeln des Bürgerkönigs nicht, festen Fuß im Vaterland zu fassen; erst nachdem durch das nämliche Volk, das am 8. Mai 1870 dem Regiment Napoleon’s ein glänzendes Vertrauensvotum ausgestellt hatte, am 4. September 1870 auf die Nachricht von der Katastrophe von Sedan die Absetzung des „feigen Despoten“ verhängt worden war, brachen für die verbannten Prätendenten bessere Zeiten an. Am 8. December 1871 wurden durch Dekret der Nationalversammlung der Familie Orleans alle beweglichen und unbeweglichen Güter zurückgegeben. Damit waren die Orleans wieder „aktionsfähig“. Der Herzog von Aumale wurde bald darauf vom Generalrath der Oise zum Präsidenten gewählt; Aumale und Joinville traten in die Kammer ein. Der Präsident der Republik, Thiers, beobachtete gegenüber den Nachkommen des Königs, dessen einflußreichster Rathgeber er lange Zeit gewesen war, eine gewisse wohlwollende Neutralität; es wurde sogar behauptet, die Anhänglichkeit des Herrn Thiers an die Republik werde mit seiner Präsidentschaft stehen und fallen; denn er sei von Grund des Herzens Monarchist und werde nur durch den Starrsinn der extremen Royalisten immer wieder ins republikanische Lager zurückgedrängt.

Ein Sieg über die konservative Republik wäre nur möglich gewesen, wenn sich alle monarchischen Elemente offen und aufrichtig verbündet hätten. Deshalb wurde auch von dem alten General Changarnier und anderen Orleanisten eifrig am Zustandekommen einer „Fusion“ der Anhänger der beiden Linien des Königshauses gearbeitet. Im Sommer 1873 schien ein Ausgleich nahe gerückt zu sein. Der Graf von Paris begab sich nach Frohsdorf, um „Henri Quint“, dem Grafen von Chambord, als dem Chef des Gesammthauses zu huldigen. Allein bald trat zu Tage, daß es in Chambord’s Schloß bei äußerlichen Ceremonien geblieben, nicht eine wirkliche Versöhnung zu Stande gekommen war; der Gegensatz zwischen der weißen Fahne und der Trikolore bestand fort. Graf Chambord selbst wies darauf hin, daß man „nicht in der Personenfrage, sondern in den Principien das Heil Frankreichs zu suchen habe“; in den Principien gingen aber die Forderungen der beiden Familien nach wie vor auseinander. Die Orleans verlangten nach der Tradition ihres Hauses Anerkennung einer liberalen Verfassung; Chambord wollte bedingungslos sein gutes Recht anerkannt wissen und sah in jedem Zugeständniß ein seiner Ehre zugemuthetes Opfer. Er wolle niemals „König der Revolution“ werden, erklärte er in einem Briefe an einen Getreuen in Chesnelong, er werde nie auf Bedingungen oder Bürgschaften sich einlassen: „mon principe c’est tout.“

Viele Anhänger der Orleans wollten deshalb auch nach der Fusion lieber „die Republik der ehrlichen Leute“ erhalten als eine monarchisch-klerikale Reaktion heraufbeschwören, und so kam die republikanische Verfassung vom 24. Februar 1875 mit dem Septennat eines Präsidenten zu Stande. Aufs Neue schien eine Entscheidung im Sinn der Royalisten bevorzustehen, als Heinrich V. am 24. August 1883 aus dem Leben schied und der ans Sterbelager nach Frohsdorf geeilte Graf von Paris als Philipp VII. die Huldigung vieler angesehener Legitimisten empfing. Allein eine Gruppe von „reinen“ Royalisten will auch heute nichts von „Egalité IV.“ wissen, und dieser selbst, der durch Dekret des Senats vom 22. Juni 1886 aus Frankreich ausgewiesen wurde und seither in England oder Oesterreich sich aufhielt, scheint nicht so viel Thatkraft zu besitzen, daß er den Versuch wagte, das aus den Fugen gerissene Staatswesen Frankreichs zur alten monarchischen Einheit zurückzuführen.

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