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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

„Das rationelle Kleid.“
Von Wilh. F. Brand.

Es giebt Leute genug, welche die moderne Frauenkleidung als unschön und unzweckmäßig verurtheilen. Sobald aber Jemand sich beikommen läßt, an dem eng angeschnürten und wieder luftballonartig aufgeblähten, glatt anliegenden und wieder faltenreich herunterbaumelnden, oben ausgeschnittenen und unten nachschleifenden Kleide reformiren zu wollen, verfällt er dem Gelächter der Menge, derselben Menge, die über jede neue Mode, sie mag zweckmäßig oder nicht, schön oder häßlich sein, so lange spottet, bis sich das Auge daran gewöhnt hat und sie allmählich angenommen wird.

Der getheilte Rock.

Hat also jede bedeutendere Modenänderung im Anfange mit Hindernissen zu kämpfen, um wie viel stärker werden sich diese emporthürmen, sobald eine Umgestaltung aller Kleidungsprincipien ins Auge gefaßt wird, eine vollständige Revolution der ganzen Frauentracht; denn das ist es in der That, was die in England bestehende Rational Dress Society anstrebt; es läßt sich leicht denken, mit wie viel Hohn und Spott sie von allen Seiten dafür überhäuft wird. Allein die Gesellschaft, über welche die „Gartenlaube“ schon einmal berichtet hat (vergl. Jahrg. 1883, S. 508), besteht fort, nimmt an Mitgliedern zu und beweist solchergestalt ihre Lebensfähigkeit. Die Grundsätze, welche sie lehrt, sind freilich ein seltsames Gemisch von unleugbarer Wahrheit und lächerlichen Uebertreibungen – immerhin aber eigenartig und interessant genug, um eine nähere wiederholte Beachtung zu verdienen.

Die beiden Hauptangriffsobjekte der Frauenkleiderreformatoren bilden die wesentlichsten Bestandtheile weiblicher Toilette: das Korsett und der lose Rock. Gegen das erstere ist auch bereits in anderen Landen so viel und mit Recht geeifert, daß die Kleiderrationalisten in dieser Beziehung kaum etwas Neues vorzubringen vermögen und wir daher bei diesem Punkt nicht länger zu verweilen nöthig haben. Um so überraschender aber sind die bezüglich des losen Rockes angestrebten Neuerungen, der von den Revolutionären als total naturwidrig und unpraktisch verurtheilt wird.

Ohne irgend welche Rücksicht, heißt es, auf die Proportion der einzelnen Körpertheile ist das Kleid gerade unten an den Füßen am weitesten, und hier ist es offen, offen für Wind und Kälte und offen auch zur Aufnahme von aller Art Schmutz oder, wie die Viscounteß Harberton, die Präsidentin des Vereins, in ihrer Broschüre „Reform in Dress“ im einzelnen ausführt: „Es ist diejenige Art eines Kleides, deren Reinhaltung die allerschwierigste ist, da dieselbe bei jedem Schritt sich an der Ferse reibt, selbst wenn der Rock wie es indessen gewöhnlich der Fall ist – nicht gerade so lang herabhängt, daß er mit Staub und Schmutz in Berührung kommt. In solcher Kleidung auf öffentlichen Verkehrsstellen treppab zu gehen – es ist vielleicht wohlthuender, daran gar nicht zu denken!“

„Rationelle“ Frauenkleider.

Der Rock, eifern die Reformatoren weiter, der wie ein loser Umhang am Körper baumelt, verbindet ein Maximum von Gewicht mit einem Minimum von Wärme. Und dasselbe gilt von allen Unterröcken. (Ich darf mir wohl das Privilegium gestatten, bei einem derartigen Artikel, dem Beispiel der eben angeführten hohen Autorität folgend, die Dinge beim rechten Namen zu nennen. Es dürfte dadurch manchen weitläufigen Umschreibungen und selbst Mißverständnissen vorgebeugt werden.) Dieser Rock, der die freie Bewegung hemmt, ist zugleich die Ursache vieler Unfälle, und die Viscounteß berechnet, daß die „Vergeudung von Muskelkraft“, die aufgewandt wird, die Beine gegen eine Masse von Draperie zu stoßen, sich auf mindestens 50 Procent beläuft und, fügt sie hinzu, ‚im Wind mag es noch viel mehr betragen.‘ Dann führt sie weiter aus, daß eine Frau jedesmal, wenn sie die Treppe hinaufgeht, bei jeder Stufe ein Gewicht von ungefähr zwei bis sechs Pfund mit ihren Beinen zu heben hat. Das heiße aber nichts Anderes, als daß eine Frau, die fünfmal eine Treppe hinaufgegangen, eben so viel Kraft aufgewandt habe, als ein Mann braucht, zehnmal hinaufzusteigen. Man lasse den letzteren nur einmal, mit Weiberröcken angethan, einen Berg erklimmen, da werde er bald innewerden, was es heiße, sich so einen künstlichen Hemmschuh an die Beine zu legen, den die Frau Präsidentin mit einem „jungle“ vergleicht, jenem undurchdringlichen indischen Gebüsch, in dem der Tiger haust. „Die Natur,“ fährt sie dann fort, „hat gewiß nie geplant, daß die halbe Menschheit sich einen künstlichen jungle schaffen sollte, durch den sie ihr Leben lang waten und den sie, um ihn nie zu entbehren, sorgfältig mit sich umherschleppen sollte.“

Da nun die Rationalisten den praktischen Gesichtspunkt überhaupt als den fast einzig berechtigten in Toilettenfragen gelten lassen, so ist ihnen selbstverständlich auch die Schleppe, die bisher mit schweren Sammt- oder scharfglänzenden Atlasfalten das Entzücken künstlerisch sehender Augen war, ein hassenswerthes Unding. Die Idee, „daß Leute wünschen können, ihre Kleider auf dem Fußboden nachzuschleppen, um sich ein würdiges Aussehen zu geben,“ wird geradezu als eine abgeschmackte Tollheit erklärt.

„Warum aber,“ fragen sie weiter, „behält man dieses Kleid bei, an dem so viel auszusetzen? Etwa seiner Schönheit wegen? Ist es denn wirkach schön?“ Dagegen protestiren sie auf das Energischste. „Ein so künstlich zusammengestückeltes naturwidriges Ding, wie das moderne Frauenkleid, kann nicht schön sein –“ so lautet das Verdammungsurtheil. Was ist denn aber endgültig schön in der Mode? möchte man dagegen fragen. Würde es schöner sein, unsere Frauen im klassischen Gewand zu sehen, oder im ländlich kurzen Rock oder gar – im „Rational Dress“ der Reformgesellschaft?!

Denn diese Kleiderrevolutionäre begnügen sich nicht damit, das Bestehende niederreißen zu wollen; sie haben auch etwas Neues ersonnen, was dessen Stelle einnehmen soll. Doch wie das Fehlerfinden immer leichter ist als das Bessermachen, so geht es auch hier. Indessen sie greifen das Uebel an der Wurzel an, das muß man ihnen zugestehen. Nicht etwa tournürenlose Römerinnen oder kurzröckige Elsässerinnen erheben sie auf den Schild, noch begnügen sie sich mit anderen verhältnißmäßig noch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_093.jpg&oldid=- (Version vom 6.6.2018)