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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

bis das Baumgedränge keinen Durchblick mehr gestattete. Was er ärgerlich vorausgesagt hatte, war eingetroffen – Fräulein Lindenmeyer hatte Migräne; sie lag zu Bett und brauchte Hilfe und Pflege. Gern wäre er zu Hause geblieben; allein er hatte schon beim Morgengrauen das Gemüse abgeschnitten, und das mußte fortgeschafft werden.

Nun war seine junge Herrin allein; denn der oben in der Glockenstube zählte nicht. Mit der Feder in der Hand war er ja nie in der wirklichen Welt; da konnte alles um ihn her niederbrennen, wenn nur die Glockenstube stehen blieb und die Tinte nicht eintrocknete … Dieses Urtheil entsprang jedoch keineswegs irgend welcher Geringschätzung, im Gegentheil, Heinemann war voll Bewunderung; aber in seinen Augen war der gelehrte gnädige Herr Einer, für den man in gewöhnlichen Dingen denken und sorgen mußte, wie für das liebe, unschuldige Ding, die kleine Elisabeth auch.

Nun, er hatte sein Möglichstes gethan, um seiner jungen Herrin die Tageslast zu erleichtern. Er hatte die Ziegen gemolken, frische Eier aus den Hühnernestern genommen und Zuckererbsen zum Mittagessen gepflückt; kleingespaltenes Holz lag neben dem Herde, das Treppenhaus war sauber gefegt, und in Fräulein Lindenmeyer’s Eckstube stand die homöopathische Hausapotheke mit schriftlichen Anweisungen von seiner Hand – er verstehe sich aufs Kuriren wie kein Anderer, versicherte Fräulein Lindenmeyer immer. Wie er dann aber tagsüber nie die Thür im Gartenstaket einklinkte, geschweige denn verschloß, so hatte er es auch heute achtloser Weise unterlassen. Der am Staket placirte Kettenhund schlug ja pünktlich an, sobald sich die Thür von außen her in den Angeln rührte; und was hätte denn aus dem Garten entwischen sollen? Das Hühnervolk hauste hinter einem absperrenden Holzgitter und die Hauskatze bewerkstelligte ohnehin ihre Waldbesuche durch die Fensteröffnungen der Kirchenruine. An das Kind, die kleine Elisabeth, hatte der alte Mann nicht gedacht. Sie war zwar meist seine unzertrennliche Begleiterin im Garten; sie ging auf Tritt und Schritt mit ihm und plauderte unermüdlich, und während seine großen, schwieligen Hände rüstig arbeiteten, antwortete und erzählte er unverdrossen und rieb sich nur dann und wann an der Schürze die Erde von den Fingern, um dem Kinde den verschobenen Hut in die Stirn zu rücken oder der Puppe den bejammerten, aufgelösten Haarzopf mühselig wieder „zusammenzuwürgen“. Aber vor seinen Augen war das kleine Mädchen noch nie bis an die Thür gelaufen, und auch Claudine wußte, daß es sich vor dem Kettenhund fürchtete. Deshalb war sie unbesorgt ihren Hausgeschäften nachgegangen, während das Kind im Garten spielte. Sie hörte durch die offenen Fenster den Puppenwagen über den Kies rollen und mußte öfter lächeln über die Modulation der lieben Kinderstimme, je nachdem sie die Puppen ausschalt oder ihnen zärtliche Kosenamen gab.

So war es gegen Mittag geworden. Die Tageshitze stieg. Nur selten zog eine vereinzelt segelnde Wolke träge über die Sonnenscheibe hin und warf auf den Garten einen momentanen Schatten, wohlthuend und verdunkelnd, als ob ein riesiger Vogel seine Schwingen mitleidig über alle die hängenden und schmachtenden Blumenköpfchen breite.

Claudine trat an ein Fenster und rief nach dem Kinde; aber sie erschrak vor ihrer eigenen Stimme, so lautlos still war es draußen. Nur der Hund kroch mit rasselnder Kette aus seiner schwülen Hütte und sah mit gespitzten Ohren nach dem Fenster hinauf, wo gerufen wurde. Das Kind antwortete nicht, und auch sein helles Kleidchen war weder zwischen dem Gebüsch, noch in der Laube zu entdecken.

Noch kam kein beängstigender Gedanke in Claudinens Seele. Die Kleine stieg ja oft direkt vom Garten aus hinauf in die Glockenstube, um dem Papa ein paar Blumen oder das Schürzchen voll „wunderschöner Steinchen“ zu bringen. Claudine eilte hinauf; aber in dem kühlen und durch die zugezogenen grünen Gardinen verdunkelten Thurmgelaß saß ihr Bruder allein am nördlichen Fenster, so vertieft in seine Arbeit, daß er auf ihre Frage hin nur mit einem zerstreuten, aber liebevollen Blick aufsah, lächelnd den Kopf schüttelte und emsig weiter schrieb. Auch bei Fräulein Lindenmeyer war das Kind nicht, und nun flog die junge Dame angsterfüllt hinaus in den Garten.

In der Laube stand der Puppenwagen mit dem geliebten Wickelkind, das Wachsgesicht der Puppe mit der abgenommenen Kinderschürze fürsorglich zugedeckt; aber die kleine Pflegemutter war nicht da. Sie war auch nicht im Kreuzgangwinkel bei den Ziegen und Hühnern, nicht in der Kirchenruine, wo sie sich so gern auf dem grünen Rasenboden tummelte und Grasblumen suchte für die „armen Damen“, wie sie die gemeißelten Aebtissinnengestalten auf den vermoosten, jetzt an den Wänden lehnenden Grabsteinen nannte. Alles angstvolle Rufen und Suchen war vergeblich.

Da sah sie über die Staketenthür hinweg drüben auf der Chaussee eine rothglühende Päonie liegen, und jetzt wußte sie, daß das Kind, einen Strauß in der Hand, aus dem Garten gelaufen war. Ohne sich zu besinnen, eilte sie hinaus, die Chaussee entlang.

Oede, todtenstill streckte sich die weiße Weglinie vor ihr hin. Seit die Eisenschienen in ziemlicher Nähe vorüberliefen, war diese Verkehrsader fast ganz unterbunden; nur selten unterbrach Rädergeroll die Waldstille – ein Ueberfahren des Kindes war mithin nicht zu befürchten … Die Kleine mochte übrigens Heinemann’s Beete arg geplündert haben; jedenfalls konnte das Händchen die Blumen auf die Dauer nicht fassen, denn da und dort bezeichnete eine verstreute Nachtviole oder ein Jasminzweig den Weg, den sie genommen hatte.

Sie mußte schon seit geraumer Zeit ausmarschirt sein; wenigstens erschien Claudine die Strecke schier endlos, die sie bereits zurückgelegt hatte – Angstthränen füllten ihre Augen und das Herz klopfte ihr zum Zerspringen. Zuletzt fand sie den Hut des geliebten Puppenlenchen, und zwar nahe dem Dickicht, das die Fahrstraße begrenzte; ihr Puls stockte bei dem Gedanken, daß das Kind in den Wald eingedrungen sei und angstvoll umherirre, und schon wollte sie die Stimme zu lautem Rufen erheben, als Kindergeschwätz, in welches sich eine männliche Stimme mischte, zu ihr drang – es war da, wo die Chaussee eine so scharfe Biegung machte, daß sich der dichte Wald plötzlich wie eine Koulisse vorschob und jeden Ausblick wehrte. Unwillkürlich preßte sie die Hände gegen die fliegende Brust und horchte. Ja, das war Baron Lothar, der eben sprach, und das Kind war bei ihm und schon nach wenigen eilenden Schritten weiter thaten sich die grünen Wände wieder vor ihr auf und sie sah die Sprechenden herankommen.

Baron Lothar führte mit der Linken sein Pferd am Zügel, und auf dem rechten Arme trug er die kleine Entlaufene. Der runde Hut hing ihr im Nacken, und das dicke Blondhaar fiel wirr und tief in die Stirn und an den erhitzten Bäckchen herab. Sie mochte ihre Heldenthat bereits schwer, unter heißen Thränen, gebüßt haben; denn sie sah sehr verweint aus; aber ihr Lenchen hatte sie auch in ihrer Herzensangst und Rathlosigkeit nicht preisgegeben, sie hielt die Puppe krampfhaft fest an ihrer Brust.

Sie schrie auf, als sie die schöne Tante so plötzlich auf sich zukommen sah. „Ich wollte der Erdbeerdame Blümchen bringen und das dauerte so lange, ach, so lange! Und Lenchen hat ihren neuen Hut verloren, Tante!“ rief sie ihr entgegen und löste das linke Aermchen von ihres Trägers Nacken, als wolle sie schleunigst wieder unter den Schutz der Pflegerin flüchten; aber er hielt sie fest.

„Du bleibst jetzt bei mir, Kind!“ gebot er. Sie duckte sich wie ein erschrockenes Vögelchen und sah scheu in das bärtige Antlitz dicht neben dem ihren – der gebieterische Ton war ihr neu. „Das hast Du zu verantworten, kleine Ausreißerin!“ fuhr er zu dem Kinde fort, während sein Blick das tieferregte Gesicht, die thränenverschleierten Augen der schönen Hofdame ausdrucksvoll streifte. Sie stand nun vor ihnen und rang vergebens nach Athem und einem Wort des Dankes. – „Und nun möchtest Du mir auch noch schleunigst den Laufpaß geben und fragst nicht, ob die Arme da Dich auch tragen können? Denn laufen kannst Du ja absolut nicht mit Deinen todtmüden Beinchen! … Nein, nein, lassen Sie!“ wehrte er ab, als Claudine in der That die Arme hob, ihm die Bürde abzunehmen. „Ist’s doch kaum, als sei mir eine Grasmücke auf den Arm geflogen! Komm, Kindchen, gieb nur Deinen Arm wieder her und sieh mich nicht so scheu an – hast Dich ja vorhin auch nicht vor meinem Bart gefürchtet! – Sieh, wie brav mein Fuchs mit mir geht und sich führen läßt! … Und da ist ja wohl auch der unglückliche Hut, um den Du so bittere Thränen vergossen hast?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_070.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)