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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Da draußen, dem Fenster ziemlich nahe, stand der Wagen mit seinem Kinde. War er verbittert und ließ es Andere entgelten, weil sie von ihm gegangen war, die fürstliche Frau, die seinem Dasein einen unerhörten Glanz gegeben hatte? Er mochte freilich schwer tragen an seinem Geschick. Sie war ihm für immer entrissen, und was ihm von ihr geblieben, da lag es, gebrechlich und hilflos, und der glänzende Reichthum, den die Prinzessin hinterlassen, vermochte nicht, ihrem Kinde so viel Kraft zu geben, daß es auf seine Füßchen treten konnte! … Wie viel war schon um dieses winzige Geschöpfchen gekämpft und gestritten worden! – Die Großmutter, die Prinzessin Thekla, die sich über den Tod ihrer Lieblingstochter nicht beruhigen konnte, war selbst in Italien gewesen, um sich das Kind zu erbitten; aber Baron Lothar hatte sie scharf und entschieden zurückgewiesen. Nun flüsterte man bei Hofe, die alte Dame verfolge den Plan, dem verwittweten Schwiegersohn auch die ihr gebliebene Tochter, die Prinzessin Helene, als zweite Frau zu geben, damit das geliebte Enkelkind nicht in die Hände einer fremden Stiefmutter falle, und einige Kluge, die das Gras wachsen hörten, wollten wissen, daß die junge Prinzessin nicht „Nein“ sagen würde, da sie ja schon zur Zeit der Brautschaft ihrer Schwester eine stille Neigung für den schönen Schwager gehegt habe… Die Prinzessin Helene war hübscher als die Verstorbene, aber sie hatte auch die großen, unheimlichen Funkelaugen, mit denen das Kind da draußen unverwandt hinauf in das Lindengeäst starrte. Es lag gestreckt in den weißen Kissen und die dünnen Fingerchen pflückten im nervösen Spiel an dem blauen Atlas der Bettdecke, während eine alte Kinderfrau strickend neben dem Wagen saß und dabei unter lebhaften Gesten dem Kinde vorerzählte.

Ein starkes Räderrollen erschütterte den Boden unter den Füßen der jungen Dame, und gleich darauf trat Beate, zum Ausgehen umgekleidet, wieder in das Zimmer. Sie nahm das Weidenkörbchen mit den Erdbeeren vom Tische und hing es an den Arm. „Für Deine kleine Elisabeth,“ sagte sie zu Claudine, und ein rother Schimmer lief über ihr Gesicht.

Zuckerdose und Kuchenreste wurden noch eiligst im Wandschrank verschlossen, dann ging es fürbaß.

Draußen vor der offenen Hausthüre hielt ein Wagen mit zurückgeschlagenem Verdeck. Baron Lothar saß auf dem Bock und hielt die Zügel.

„Vorwärts, Schatz!“ trieb Beate, als Claudine wie erschreckt auf den Thürstufen zögerte und sichtlich widerstrebte, eine solche Aufmerksamkeit in Neuhaus anzunehmen. – „Die schmucken Kerlchen da vorn“ – sie zeigte nach den Pferden, herrlichen, jungen Thieren, die sich ungestüm gebärdeten – „schnauben wie die Sonnenrosse; sie möchten uns am liebsten durchbrennen.“

Gleich darauf brauste der Wagen unter den Linden hin und die Fahrstraße hinab. Baron Lothar regierte das feurige Gespann leicht, mit spielender Sicherheit. Und dabei musterte er von Zeit zu Zeit die Roggen- und Rübenfelder, die mit grünen Früchtebüscheln besetzten Zweige der Obstbäume zu beiden Seiten des Fahrweges. Aber nicht einmal wandte er sich nach den Insassen des Wagens zurück. Er hatte vorhin Claudinens Zögern gesehen und den Widerspruch in ihren Zügen gelesen; sie wußte es, denn ihr Blick war dem seinen begegnet, einem Spottblick, der ihr das Blut in die Wangen getrieben hatte; aber wohl oder übel mußten sie nun doch zusammen fahren, „Montecchi und Capuletti“ in einem Wagen, der mit seiner hellen Atlaspolsterung, seiner ganzen blitzenden und schimmernden, vornehmen Ausrüstung wie ein verkörpertes Stück Hofglanz durch das Paulinenthal flog.

In würzigen Feld- und Walddüften und in dem tiefen Goldglanz der Spätnachmittagsonne förmlich schwimmend, breitete sich das schöne, weite Thal hin, ein jugendstrotzendes Gelände, das der kleine, weit droben aus der Bergbrust quellende Fluß in fröhlichem Lauf durchschnitt. Wellenglitzernd, bald verdunkelt unter Weidengebüsch hinkriechend, bald im freien Sonnenlicht übermüthig an den Uferblumen reißend, kam er daher, der Schuldige, der im Verein mit Gewitter-Regengüssen wiederholt zum wilden Raubthier geworden war. Wer sah es ihm an, daß er einen Theil des Gerold’schen Wohlstandes verschlungen hatte?

Ringsum, wohin der Blick fiel, wurde noch rüstig vor Feierabend gearbeitet. Die Sense des Mähers fuhr mit blendendem Blitz durch das niederrauschende Wiesengras; in den Furchen der Kartoffeläcker hantirten ganze Kolonnen gebückter Frauen mit der Hacke, und auf dem Anger am Flußufer und zwischen den wilden Schlehenbüschen der grasigen Raine trieben barfüßige, im Gehen strickende Mädchen ihre Gänse und Ziegen vor sich her. Hoch vom Walde herunter aber scholl das taktmäßige Aufschlagen der Holzaxt. Treuherzig grüßende Zurufe der fleißigen Menschen flogen den Vorüberfahrenden von allen Seiten zu und wurden freundlich erwiedert, und Claudine kam zum ersten Mal der Gedanke, daß sich die Insassen des stolzen Wagens nicht vor dem schweißtriefenden Arbeiterfleiß zu schämen brauchten; sie waren nicht wie die nutzlosen Lilien im Felde, nicht wie die Drohnen im Bienenkorbe; sie arbeiteten und schafften auch, die Eine im angeborenen Thätigkeitstrieb, und die Andere um der Genugthuung willen, sich die Selbstachtung zu retten, sich nützlich zu machen und damit das Wohl geliebter Menschen zu fördern …

Für einen kurzen Moment wurde weit drüben hinter den Baumwipfeln der Gärten das mächtige Schieferdach des Altensteiner Gutshauses sichtbar. Die Fahnenstange ragte noch kahl in die Lüfte – das schmerzlich beweinte, verlorene Vaterhaus beherbergte den neuen Besitzer mithin noch nicht. Aber auf der Chaussee kam langsam ein schwerbeladener Möbelwagen daher, dem ein niederes Gefährt mit der Holzkiste eines Koncertflügels folgte.

„Der neue Nachbar zieht ein, wie es scheint,“ sagte Beate mehr wie für sich und musterte mit scharfem Blick die vorüberfahrenden Wagen.

In diesem Augenblick wandte sich Baron Lothar rasch nach Claudine zurück.

„Sie wissen, wer das Gut gekauft hat?“ unterbrach er sein bisheriges Schweigen so urplötzlich, wie ein Richter, der seinen Delinquenten in einem unbedachten Moment zu überrumpeln sucht.

„Wie kann ich das wissen?“ gab sie, durch seinen Ton befremdet, etwas scharf zurück. „Wir suchen zu vergessen, daß wir jenseit des Waldes zu Hause waren, und forschen grundsätzlich nicht, wer dort nach uns kommt.“

„Das weiß hier im Thal noch Niemand, Lothar,“ bestätigte Beate. „Unsere besten Klatschweiber im Dorfe zerbeißen sich die Zähne an der harten Nuß. Mich beschleicht manchmal die geheime Furcht, daß ein reicher Industrieller der Käufer ist; das was ich eben durch die Vorhanglücken des Möbelwagens gesehen habe, bestärkt mich in dem Glauben – diese Leute können es ja nie stilvoll und brillant genug haben! Schrecklich! Qualmende Fabrikschlöte in unserem schönen, luftreinen Thal!“

Baron Lothar hatte sich längst wieder umgewendet; er antwortete nicht und ließ die Peitsche auf dem Rücken der Pferde spielen. Und weiter brauste der Wagen, nun im Walde, und Beate meinte mit einem Blick auf das Unterholz, das sich laubenartig über den mit Blüthensternen besäten und von Farrenwedeln umfächelten Moosboden ausbreitete, sie glaube wohl, daß die in der Residenz mit ihren verstaubten Lungen sich gern einmal auf solch ein grünes Polster hinstrecken möchten. Sie hatte das Körbchen mit den Erdbeeren auf dem Schoße und ein kleines Batisttuch als Schutz gegen die Sonne über die köstlich duftenden Früchte gebreitet. – Diesmal ging die Fahrt freilich rascher von statten als neulich mit den Miethgäulen.

„Sieh, sieh, wie hübsch sich doch Dein Eulenhaus herausgemausert hat!“ rief Beate überrascht, als die kleine Besitzung in Sicht kam. „Seit meinem letzten Besuch bei Dir und Deiner Großmama bin ich nicht wieder hierhergekommen. Es hat sich ja förmlich mit einem grünen Mantel behangen!“

Sie hatte Recht. Erst in ihren letzten Lebensjahren hatte die verstorbene Besitzerin Anpflanzungen von wildem Wein am Thurm gemacht. Noch vor vierzehn Tagen hatten die mit schwachentwickelten Blättchen besetzten Ranken nur wie ein dünnes, wenig sichtbares Fadennetz die Mauern umstrickt; heute aber ließ das üppige Blattgewebe nur noch ein paar Fensterbogen frei. Bis über die untere Thurmstube kroch es hinauf; es umrahmte die auf die Plattform führende Glasthür und hing seitwärts wieder über dem Geländer herab, wie ein hingeworfener Teppich.

Heinemann hatte der kleinen Elisabeth eben ein Vogelnest hoch im Gebüsch gezeigt; er trug das Kind noch auf dem Arme

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_055.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)