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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Das öffentlichste Elend.
Ein Beitrag zur Vagabundenfrage von Friedrich Hofmann.

Ja, das öffentlichste: es läuft am hellen Tage auf Straßen und Gassen herum, und Jedermann kennt es, aber nur von außen und unter einer Firma, die nach und nach einen ganzen, an sich ehrenwerthen Stand verdächtigt hat, den der ehemaligen wandernden Handwerksbursche. Wenn ehedem ein solcher Wandergeselle, mit dem Wachstuch überm Hut, dem festen Knotenstock in der Hand und dem Felleisen auf dem Rücken die Straße daher kam und als „armer Reisender“ um einen Zehrpfennig bat, so ward ihm selten die Gabe versagt, auch wenn sein Aeußeres verrieth, daß die landübliche dreijährige Wanderzeit schon längst von ihm überschritten sein müsse. Man wußte, daß die damals noch herrschenden Zunfteinrichtungen, um den „goldenen Boden“ des Handwerks nach Möglichkeit zu schützen, oft an Bestimmungen fest hielten, die man nicht anders als sehr hartherzig und selbstsüchtig nennen konnte. Da von jeher die Zahl der arbeitsuchenden Wandergesellen in den meisten Gewerben größer war als die der arbeitgebenden Meister, so mußte bei lange vergeblicher Wanderung selbst für den ordentlichsten Handwerksburschen die Zeit kommen, wo der letzte Mutterpfennig aus dem ledernen Geldbeutelchen verschwand und der Mangel den Burschen zum „Fechten“ zwang. Das konnte auch dem Sohne wohlhabender Eltern widerfahren, um wie viel eher dem Armen! Nun gab es aber auch Städte, in welchen die Zunft gewisser Handwerke nur eine bestimmte Anzahl von Meistern duldete, oder wo der junge Handwerker gezwungen war, wenn er das Meisterrecht erwerben wollte, eines der bestehenden Geschäfte einem alten Meister oder einer Wittwe um möglichst theuren Preis abzukaufen. Wer nun nicht am Orte als Geselle weiter arbeiten mochte oder konnte, dem blieb nichts Anderes übrig, als wieder „in die Fremde“, das heißt auf die Wanderschaft zu gehen. Noch Schlimmeres erzählt man von einer Kammmacherzunft: wenn einer ihrer Heimathgesellen aus der Fremde zurückkam und binnen vierzehn Tagen am Orte keine Arbeit bekam, so gebot das Zunftgesetz, daß derselbe entweder sofort dem Handwerk entsage oder wieder auf die Wanderschaft gehe. Es lag also ganz in der Willkür der Meister, welches Schicksal sie über den Gesellen verhängen wollten. Nimmt man dazu, daß trotz dieser Zunfthärten doch jeder Geselle mit Stolz an seinem Handwerk hing und daß in jener Zeit das „Umsatteln“ ein Wagstück war, dem immer etwas Anrüchigkeit anhaftete, so war’s natürlich, daß junge Handwerker, namentlich wenn ihnen auch zum Auswandern die Mittel nicht zu Gebote standen, die Wanderschaft eben weiter fortsetzten und daß man dann leicht Handwerksburschen auf der Landstraße begegnen konnte, die das Mannesalter längst erreicht hatten.

Langandauernde Arbeitslosigkeit konnte jedoch auch einen von Haus braven Gesellen erst äußerlich und dann innerlich herunterbringen; die Noth drückt in die Tiefe; aus der verschmähten Arbeitslust erwächst die Arbeitsunlust, und es bedarf wohl kaum noch besonderer Verführung, um den ehrlichen Wandergesellen von Stufe zu Stufe sinken zu lassen, erst zu dem arbeitsscheuen, das Fechten als Gewerbe treibenden Stromer und Landstreicher und, wenn die Verlockung auf empfänglichen Boden fällt, zur wüsten Sorte der Gauner und Verbrecher, die aus allen Ständen ihre Rekruten ziehen; – und diese alle gebrauchen nur den einen Bettlergruß auf der Landstraße wie vor der Wohnungsthür: „Ein armer Reisender!“

Das Gaunerwesen ist älter als das Zunftwesen, das zuerst den Handwerksgesellen auf die Wanderschaft sandte, und eben so hat die Gaunersprache sicherlich nicht in den Zunftherbergen ihren Ursprung zu suchen. Daß aber in unserem Vaterlande Stromer und Gauner sich förmlich organisiren, mit einem besonderen Kastengeist ausrüsten und sogar einen eigenen Jargon als Gesellschaftssprache ausbilden konnten, das hängt mit dem deutschen Schicksal von den ältesten Zeiten her zusammen. Nicht bloß für die Kämpfe der deutschen Stämme unter sich, sondern für die größten europäische Kriege ist Deutschland das Schlachtfeld gewesen, und jeder fremde Heereszug ließ einen Bodensatz von verlottertem Volke zurück, das die Scharen der an sich schon zahlreichen „fahrenden Leute“ vermehrte. Letztere sind von den Gaunern und Strolchen wohl zu unterscheiden, denn die „Fahrenden“ suchten durch Leistungen aller Art ihr Brot zu verdienen. Ihr erstes Auftreten führt uns bis zur Völkerwanderung zurück, wo römische Fechter, Taschenspieler, Tänzerinnen und dergleichen vagirende Künstler in Deutschland eindrangen. Einen starken Zuwachs erhielt sowohl das fahrende wie das Gaunervolk durch die Kreuzzüge, und sie alle hatten während des ganzen Mittelalters, wo von Staatswegen für die öffentliche Sicherheit noch so wenig oder gar nicht gesorgt war, die beste Zeit zur üppigsten Entwickelung. Zu den Sängern, Schauspielern, Spielleuten und Gauklern, die an den Höfen der Fürsten und Herren, in Schlössern und Burgen, gleichwie bei den Lustbarkeiten des Volks in Städten und Dörfern willkommene Freudenspender waren, gesellten sich nun noch neben Quacksalbern, Geheimmittelkrämern und Raritätenbesitzern Scharen von Bettelmönchen, fahrenden Schülern und Frauen, dazu kamen bald auch die Zigeuner und die zerstreuten Haufen entlassener Söldner und Landsknechte, und sie alle lieferten für die Grundmasse der bettelnden und stehlenden Stromer und Strolche ihre Abfälle. Unter diesen günstigen Verhältnissen hatte das Gaunerwesen sich so fest geordnet, daß es schon am Ende des Mittelalters seine besondere Sprache besaß.

Im Jahre 1520 erschien in Frankfurt am Main ein Büchlein: „Liber Vagatorum, der Bettlerorden“, welches in zwei Abschnitten das damalige Unwesen der Bettler schildert und in einem dritten Abschnitt eine Sammlung von zweihundert Diebsausdrücken mittheilt. Dieses erste Wörterbuch der deutschen Gaunersprache war zugleich ein erschreckendes Zeichen für die ausgebildete Organisation des Vagabundenthums. Die Reformation ging demselben scharf zu Leibe, schrieb doch Dr. Martin Luther selbst zu einer neuen Auflage des Liber Vagatorum von 1527 eine geharnischte Vorrede. In der That wurde in den folgenden Jahren eine Verringerung des fahrenden Volks bemerkbar. Aber der Friede in und um Deutschland dauerte ja nie lange, und Alles, was die aufstrebende Reformationszeit Gutes geschaffen, warf das fürchterlichste Schicksal unseres Vaterlandes, der Dreißigjährige Krieg, über den Haufen. In welchem Zustand die deutsche Nation aus diesem Völkergemetzel und den Mord- und Raubzügen aller Nachbarn hervorging, ist bekannt; Ruinen und „Wüstungen“ zeugen noch heute davon.

Die Gaunerschaft war zur Landplage angewachsen, das fahrende Volk aber hauptsächlich von Italien her vermehrt worden. Da kamen einzeln und in Gruppen die Goldsucher und Goldmacher, die Schatzgräber und Geisterbanner, Wunderdoktoren und Komödianten, Kameel-, Affen- und Bärenführer und deßgleichen, und alle bettelten und gaunerten sich von Ort zu Ort bis hoch in den Norden hinauf. Ein Bild jener Zustände schildert uns die „Wunderliche und wahrhaftige Geschichte Phylanders von Sittenwald, das ist Straff-Schriften Hans Michael Moscherosch von Wilstädt etc.“, Straßburg 1650. Die neue vermehrte Auflage eines „Spitzbuben-Lexikons“ wurde 1753 in Hildburghausen gedruckt, und 1755 erschien in Frankfurt am Main eine „Rothwälsche Grammatic oder Sprachkunst, das ist Anweisung, wie man diese Sprache in wenig Stunden reden und verstehen möge“; vieler anderer Flugschriften und Beiträge zur Kenntniß des Bettel- und Gaunerwesens in einzelnen deutschen Landstrichen nicht zu gedenken.

Die höchste Ausbildung erlangten Gaunerwesen und Gaunersprache in unserem Jahrhundert, und zwar durch die enge Verbindung des jüdischen Elements mit demselben. Und abermals war es ein Kriegszug, der diesen Zuwachs brachte. Als nämlich in Folge des „zweiten Bündnisses“ von Oesterreich und Rußland gegen Frankreich, im Jahre 1799, Suworow ein russisches Heer gegen die Franzosen in Italien durch Deutschland führte, schlossen sich demselben Schwärme von israelitischem Volke als Marketender an. Auch unter ihnen befanden sich geriebene Gauner, und diese gerade blieben überall hängen, wo sie für ihr Treiben Boden fanden. Durch sie wurde das deutsche Diebsgesindel nicht bloß vermehrt, sondern noch fester verbündet und die Gaunersprache außerordentlich bereichert. An die französischen Revolutionskriege schlossen sich die Napoleonischen unmittelbar an und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_026.jpg&oldid=- (Version vom 11.1.2021)