Seite:Die Gartenlaube (1888) 022.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Bleichrasen gelegen habe. Dieser Bienenfleiß und das scharfe Regiment in Milchkeller und Vorrathskammern sollten denn auch hauptsächlich den Reichthum „zusammengescharrt“ haben; das ließen sich die Leute im Dorfe nicht nehmen. Nun, so ganz unfehlbar war dieses Spinnstubenurtheil wohl nicht.

Die Altensteiner, von denen, just in diesem Moment, die Letzten im Miethwagen das Erbe ihrer Väter auf Nimmerwiederkehr verließen, konnten auch auf eine lange, ununterbrochene Reihe braver, fleißiger Hausmütter zurückblicken – es war auch in Altenstein zu allen Zeiten rüstig geschafft und gesorgt worden. Aber das Gut lag tiefer als Neuhaus, und in den letzten Jahrzehnten hatte ein unglücklicher Zufall es wiederholt gefügt, daß gerade über dem Paulinenthal wolkenbruchartige Gewitter niedergegangen waren. Binnen wenigen Minuten hatten die stürzenden Wassermassen und der überschäumende Fluß die niedriger gelegenen Gründe überfluthet; die Ernteaussichten waren vernichtet und der Grund und Boden auf Jahre hinaus verwüstet und verdorben gewesen – damit hatte bei allem Fleiß das verhängnißvolle „Rückwärts“ begonnen.

Und diese Schicksalsschläge waren just in das Leben eines Mannes gefallen, der alle Tugenden seines alten Geschlechts, die Tüchtigkeit des Landwirthes, den Soldatenmuth, die Treue und Hingebung für das angestammte Herrscherhaus, und wie sie sonst heißen mögen, diese Tugenden, in sich vereinigt; der Oberst von Gerold war ein echter Sohn seines Stammes gewesen. Nur auf einem Wege, einem unheimlichen, den alle seine Vorfahren streng gemieden, war er abseits gegangen – die Leidenschaft des Spieles hatte eine furchtbare Gewalt über ihn gehabt. Er hatte ganze Nächte hindurch gespielt und Unsummen geopfert, und wie die Gewitterniederstürze am Grund und Boden gewühlt und seinen Besitz schwer geschädigt hatten, so war jenes Laster verheerend in den alten Familienschrein eingedrungen, der seit Jahrhunderten die klingenden Schätze, die Werthpapiere und Dokumente in sich geschlossen. – Dieses unheilvolle Leben hatte einen jähen Abschluß gefunden durch die Pistolenkugel eines Kameraden, den der Oberst in Folge eines Wortwechsels am Spieltisch gefordert; wie eine ausgeblasene Flamme war es urplötzlich verlöscht und der Welt entrückt worden – „just noch zur rechten Zeit“, hatten die Leute gemeint; aber sie hatten geirrt; es war schon nicht viel mehr zu verlieren gewesen. –

Die umflorten Augen der schönen Hofdame streiften das von Studium und Stubenluft blaß angehauchte Gesicht des neben ihr sitzenden Bruders, über welches sich allmählich, gleichsam mit jedem Umrollen der Räder mehr, ein Glanz von stiller Freudigkeit verbreitete. Ja dieser, „der Träumer und Sterngucker“, wie er sich selbst anklagend nannte, der von seinem Aufenthalt in Spanien nach jener furchtbaren Katastrophe schleunigst Heimberufene, hatte retten sollen, was noch zu retten möglich. Er hatte es nicht gekonnt, um so weniger, als das junge Weib an seiner Seite, die zarte Andalusierin, ihre schönen Augen konsequent mit stillem Entsetzen von dem Beruf einer deutschen Hausfrau abgewendet. Er hatte schließlich nur noch ihr, der Dahinsiechenden, gelebt und die letzten Geldmittel erschöpft, um ihr gegenüber die Täuschung des Ueberflusses im Hause aufrecht zu erhalten, bis „der Engel der Erlösung sie von ihrem Schmerzenspfühl hinweggenommen“; dann hatte er resignirt das Trümmerwerk des ehemaligen Wohlstandes über sich zusammenbrechen lassen.

Claudine sah, wie in diesem Augenblick ein tiefes, erleichterndes Aufathmen seine Brust hob. Sie folgte der Richtung seines Blickes – ach ja, dort hob sich das grauschwarze Zinnenviereck des Thurmes über die Waldwipfel! Dort lag das Eulenhaus, das schützende Dach, das sie beherbergen sollte! – Wie hatte man bei Hofe gelächelt, wenn Claudine alle ihre Ersparnisse hingegeben, um das alte Gemäuer, das Vermächtniß ihrer Großmutter, in Bau und Besserung zu erhalten! Nun kam der Segen.

Sie konnte heimgehen von dem heißen Boden des Hofes in die Kühle und Stille unter grünen Bäumen – und da war sie zu Hause! „Zu Hause!“ wie das doch erlösend und beruhigend klang nach all dem Zwiespalt, den Aufregungen der letzten Monate! – Und der neben ihr saß, er brauchte nicht in eine Miethwohnung zu ziehen; er blieb auf Gerold’schem Grund und Boden, wenn auch nur in einem Waldwinkel, dem äußersten Zipfelchen des ehemaligen großen Besitzthums. Da hatte einst das Kloster Walpurgiszella gestanden, hart an der Scheide, welche die beiden Geroldshöfe trennte. Das Kloster wurde von einer frommen, schwergeprüften Ahnenmutter des alten Geschlechts erbaut, aber im Bauernkrieg zum Theil wieder zerstört; dann hatten die Gerolds den von ihnen an die Stifterin geschenkten Baugrund wieder zurück erworben, und der kleinere Theil, das Grundstück mit den Ueberresten der Baulichkeiten, war Denen von Neuhaus zugefallen. Sie hatten den Trümmern nie Beachtung geschenkt; was stürzen wollte, das ließen sie stürzen, und Zeitenlauf und Wetter hatten nagen und abbröckeln dürfen, so viel sie gewollt. Nur ein Seitenbau, das ehemalige sogenannte Sprachhaus der Nonnen, welches vom Feuer ziemlich verschont geblieben, war nothdürftig im Stand erhalten worden – man hatte einen Waldhüter hineingesetzt. Im Ganzen aber war der entlegene wüste Besitz den Eigenthümern mehr eine Last gewesen, und sie hatten sich deßhalb nicht lange besonnen, dasselbe später einem Altensteiner, dem Großvater des letzten Gerold-Altenstein, gegen ein ihnen bequemer gelegnes Stück Ackerland zu überlassen. „Eine lächerlich romantische Grille!“ hatten sie im Stillen gemeint, als ihnen der Altensteiner mitgetheilt, daß seine Frau sich das malerische Fleckchen Erde wünsche. Und er hatte es dem geliebten Weibe als alleiniges Eigenthum verbrieft und besiegelt geschenkt – so war das Eulenhaus an Claudinens Großmama gekommen.

Nun kam auch schon das hoch in die Lüfte ragende, freistehende südliche Portal der einstigen Klosterkirche in Sicht. Das mächtige Fensterrund droben in dem schwarz angerauchten Gemäuer füllte eine durchbrochene Steinrosette. Wie ein Spinnennetz, so zart verschlungen hoben sich die steinernen Fäden von dem dahinter leuchtenden jungen Maigrün der Wipfel. Ja, die Großmama hatte einst ihre ganze Sparbüchse geleert, um ihr geliebtes „malerisches Fleckchen Erde“ vor weiterem Verfall zu schützen. Von der Kirchenruine löste sich seit Jahren kein Stein mehr, und das ehemalige Sprachhaus war mit der Zeit ein ganz wohnliches Asyl, der Wittwensitz der alten Frau geworden. Da hatte sie gelebt, seitdem ihr Mann die Augen für immer geschlossen, und die schönsten Blumen gezogen auf dem ehemals wüsten, vermoosten Grunde neben der Kirche, dem Gräberfeld der Nonnen, dem Walpurgiskirchhof, wie ihn das Volk nannte.

Der alte Heinemann, der langjährige Gärtner des Geroldshofes, war ihr Faktotum gewesen. Er hatte unter unsäglichen Mühen das verwahrloste Grundstück wieder ertragsfähig gemacht; ein wohlgerathenes Kind hätte ihn nicht mehr beglücken können, als dieser dankbare Erdenfleck. Der alte Mann war deßhalb auch mit seiner Herrin gegangen, als sie sich in das Eulenhaus zurückgezogen, und bewohnte heute noch sein Stübchen im Erdgeschoß, als eine Art Kastellan, wie es die alte Dame testamentarisch angeordnet. Und er wachte über jeden Mauerstein, der loszubröckeln drohte, über jeden Unkrautkeim, den der Wind von Wald und Wiesen herüberwehte – „wie ein Cerberus – er zählt die Grasspitzen!“ sagte Fräulein Lindenmeyer, die ehemalige Kammerfrau der verstorbenen Herrin. Auch ihr war ein Asyl im Eulenhaus für Lebenszeit zugesichert worden. Sie bewohnte das vornehmste Zimmer im Erdgeschoß, die freundliche Eckstube, wo sie mit ihrem Strickzeug und einem Leihbibliothekenroman Tag für Tag am Fenster sitzen und die drüben vorbeilaufende Chaussee überblicken konnte.

Diese zwei alten Menschen hausten einträchtig neben einander. Sie kochten auf einem Herd und zankten sich nie, wenn auch Fräulein Lindenmeyer oft genug heimlich indignirt ihre Chokoladen- und Weinsuppentöpfchen von dem aufdringlich duftenden Sauerkraut- oder Lauchgericht des Gärtners weit wegrückte.

Claudine hatte den beiden Alten ihre und ihres Bruders Ankunft mitgetheilt und sah nun mit Genugthuung dort über den Baumwipfeln ein dünnes Rauchsäulchen aufsteigen und langsam zerfließen. Fräulein Lindenmeyer kochte jedenfalls einen guten Nachmittagskaffee und machte den „armen Hiob“ die letzte Kartoffelsuppe auf dem unheimisch gewordenen Geroldshofe vergessen … Fernherüber krähte der Haushahn, der mit seinen sechs Hennen in einem Mauerwinkel des zerstörten Kreuzganges residirte, und hoch über dem Rauchschleier des Schornsteins kreisten Heinemann’s weiße Tauben, winzig und glänzend wie Silberflitter am blauen Frühlingshimmel.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_022.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)