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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Personen, die eine sitzende Lebensweise führen, können von ihrer Hypochondrie befreit werden, wenn zwischen Thätigkeit und Ruhe des Körpers und Geistes die richtige Abwechselung hergestellt wird, wenn sie für Bewegung in frischer Luft, für Zerstreuung und Unterhaltung Sorge tragen. Von dem großen Arzte Boerhave erzählt man, er sei brieflich von einem Hypochonder um Rath befragt worden. Aus dem Briefe entnahm er, daß der Verstimmte sich keine Bewegung gönne, sondern zu Hause dumpf hinbrütend hocke. Er antwortete daher, der Patient solle ihn persönlich aufsuchen, müsse aber die weite Reise zu Fuße zurücklegen. Unser Hypochonder machte sich auf die Wanderung, marschirte durch Wald und Flur, athmete die lang entbehrte schöne frische Luft in vollen Zügen ein, erfreute sich an dem herrlichen Grün der Wiesen und dem reinen Blau des Himmels und traf vollkommen – gesundet bei Boerhave ein.

Das Herausreißen aus der gewohnten Beschäftigung, die Entfernung aus der alltäglichen Umgebung, die Veränderung der ganzen Lebensweise, die Schonung des überreizten Gehirnes und der ermüdeten Nerven, die Verbesserung der gesammten Ernährung des Körpers, die Beruhigung des Gemüthes und Anregung der Willenskraft vermögen bei Behandlung des Hypochonders unendlich viel zu leisten.

Daher ist es erklärlich, welch günstigen Einfluß häufig gewisse Brunnenkuren auf das Befinden des Hypochonders üben; denn an den Heilquellen vereinigt sich die Wirksamkeit der Mineralwasser mit der Einwirkung der völlig veränderten Lebensweise und mit der wohlthuenden Macht, welche die ewig jungen Reize der Natur auch auf ein krankes Gemüth üben. Nicht allen traurig gestimmten, dabei aber sehr leicht erregbaren und gereizten Personen sagt jedoch das geräuschvolle, buntbewegte Treiben eines Weltkurortes zu; je frischer und froher das Leben rings um sie herumpulsirt, um so unglücklicher fühlen sie sich selbst. Solchen Hypochondern ist die geräuschlose, friedliche Stille eines minder belebten schönen Gebirgsortes zum Aufenthalte viel zuträglicher und die stille Abgeschiedenheit viel heilvoller. Das durch Erfahrung geschärfte Auge des Arztes muß hierüber die Entscheidung zu treffen wissen.

Unter allen Verhältnissen ist es wichtig, die Hypochondrie gleich in ihren ersten Anfängen zu bekämpfen, wo sie sich noch in anscheinend geringen Störungen des Nervensystems zu erkennen giebt, bevor sie noch zu immer höheren Graden krankhafter Gefühle und Stimmungen heranwächst und jene erschreckende Formen annimmt, welche die völlige Geistesumnachtung, eine schwere Geisteskrankheit zur Folge haben. Viel vermag hier eine zielbewußte erziehliche Thätigkeit, welche von Jugend an den kleinlichen egoistischen Sinn bekämpft, die wohlgefällige leibliche wie geistige Selbstbespiegelung hintanhält, den Gedankenkreis über die beschränkten eigenen Verhältnisse hinaus erweitert, die Empfindlichkeit für die Reize der Natur weckt, das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit der ganzen Menschheit rege hält, Theilnahme an der Kunst wachruft. Ich behaupte, daß Ruhe, Zufriedenheit und Heiterkeit Gemüthseigenschaften sind, welche ganz wohl anerzogen werden können. Wer von seinen Kinderjahren an den Gedanken gewöhnt wird, daß das eigene Ich nicht das Höchste im menschlichen Leben ist, wer sich Ideale geschaffen, denen nachzustreben er als den Zweck des Daseins erkennt, wer sich selbst jederzeit zu beherrschen gelernt hat, wer seinen Willen zur Erreichung des Edlen, Guten und Wahren zu stärken weiß, wer das richtige Ebenmaß von Arbeit und Erholung einzuhalten versteht und vermag – der wird kein Hypochonder. Und ist ihm dennoch durch irgend eine körperliche Störung die seelische Harmonie getrübt worden und sind hypochondrische Bilder vor seinem Geiste aufgetaucht: die feste Willenskraft wird diese wieder bannen können und den Sieg über den Dämon der schwarzen Gedanken erkämpfen. Als Helfer und Beschützer soll dem Kämpfenden ein treuer Freund, ein fühlender Arzt zur Seite stehen.




Der Unfried.
Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Schluß.)
15.

Ein Jahr war übers Land gegangen. Wieder war ein früher Winter mit reichlichem Schneefall von den Bergen niedergestiegen ins Thal. Und wieder war Allerseelentag. Vom frühen Morgen an war der Kirchhof nicht leer geworden von Leuten, welche die geschmückten Gräber ihrer Todten besuchten.

Und auch jetzt noch, während es schon zu dämmern begann und der Schnee in großen Flocken fiel – auch jetzt war die ernste Stätte noch nicht vereinsamt. Männer und Frauen wanderten langsam zwischen den Kreuzen umher und verweilten hier und dort zu kürzerem oder längerem Gebete.

Vor einem eisernen Gitter, welches zwei reich gezierte Hügel umschloß, die Gräber der seligen Pointnerin und des Bygotters, standen drei Menschen – Karli mit seinem jungen Weibe und der Pointner.

Gar wenig hatte sich Karli in diesem Jahre verändert. Nur höher und stattlicher schien er geworden. Der Ausdruck des zufriedenen Glückes, welches aus seinen Augen und Zügen sprach, wurde durch den Ernst der gegenwärtigen Stunde kaum getrübt.

Recht merklich aber hatte der Pointner die entschwundene Zeit zu fühlen bekommen. Grauer und dünner war sein Haar geworden; die glänzende Röthe seiner Backen hatte sich sehr, recht sehr gemildert – und was diese Backen an Röthe eingebüßt, hatten sie an Furchen zugesetzt. Seine Schultern waren gesunken, und das unermüdliche Lächeln des sauber rasirten Mundes schien sich in den müden Zug verloren zu haben, der die Winkel kreuzte. Nur aus den kleinen blinzelnden Augen lugte noch ein wenig der Pointner vom letzten Jahre.

Wie der verkörperte Spätherbst neben dem sprossenden Leben des zum Sommer sich wandelnden Frühlings, so stand dieser Alte neben dem schmucken, vollerblühten jungen Weibe, in welchem man das zarte, schüchterne Ding von einst kaum mehr erkennen mochte. Und dieser weiche, frauenhafte Zug, wie paßte er so gut zu dem sanft gerundeten Gesicht! Wie paßte er so gut zu dem ruhigen Ernste dieser großen, blauen Augen, die jetzt mit regungslosen Blicken auf einem der beiden Gräber ruhten!

Während der Pointner immer wieder die weißen Flocken von seinen Aermeln schüttelte, während er ein um das andere Mal über die Schulter blickte, als dächte er vor den kalten Gräbern schon an die warme Stube zu Hause, verwandte Karli keinen Blick von dem jungen Weibe an seiner Seite.

Nun legte er die Hand auf ihre verschlungenen Finger und sagte: „Geh’ – so lang’ därfst mir fein net bleiben, in dem kalten, nassen Schnee daheraußen!“

„Ja, Recht hat er! Könntest Dir ja schaden!“ bestätigte der alte Pointner mit lautem Eifer und hauchte in die Hände.

Da schloß sie ihr stilles Gebet und bekreuzigte sich, während ein stockender Seufzer ihren Busen schwellte.

Als sie den Kirchhof verlassen hatten, öffnete Sanni einen dunkelblauen Regenschirm und sagte zu ihrem Manne:

„Geh’ nur heim derweil, Karli – ich hab’ mich zu der Frau Lehrerin noch auf an kurzen Plausch versprochen. Der Vater bleibt schon bei mir. Gelt, Vater?“

„Aber g’wiß!“

„No ja – da kann ich ja auch mitplauschen?“ meinte der junge Bauer.

Sanni erröthete. „Ah na – geh’ nur heim – ich kann Dich net brauchen.“

„Nix da – marsch weiter! Wir können Dich net brauchen!“ kicherte der Alte, während er den Sohn mit beiden Armen gegen die offene Straße drängte. „Gelt? Möchtest gern wissen, was ’s da zum Reden giebt – jetzt allweil – Du Nasenweis, Du! Marsch weiter!“

Mit glücklichem Lachen rückte Karli den Hut, und wohl ein Dutzendmal schaute er sich noch um, während er dahinstapfte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 891. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_891.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2023)