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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

erweckte, das aus Rauschen, Sausen, Knattern und Dröhnen sich zusammensetzte, um mit einem donnerähnlichen Schlage zu erlöschen.

Ein grauer Wust von Schnee, Geröll und Staub erfüllte die Hälfte des Felsenkars. Ein zitterndes Summen ging noch durch die Lüfte, während dünne Schneebäche lautlos aus der Höhe nachgerieselt kamen.

Zitternd, mit aschfahlem Gesichte, stand Karli an einen Steinblock gelehnt. Sein ganzer Körper war überstäubt von Schnee und Sand. Dicht vor seinen Füßen waren die äußersten Massen der Lawine ins Stocken gerathen. Er brachte kein Wort über die Lippen. Mit irren Blicken suchten seine Augen die Anderen. Denen war nun aller Zorn und Uebereifer jäh vergangen. Mit blassen, verstörten Gesichtern kamen sie von allen Seiten herbeigeeilt und bekreuzigten sich unter lallenden Worten. Scheuen Blickes schauten sie einander an – sie schienen sich mit den Augen zu zählen. Und Einer fehlte. In ihrem Schreck erkannten sie nicht gleich, welcher es wäre. Endlich stotterte Martl den Namen. Einer der Nachbarn des Kommandanten war es – er hatte bei der Verfolgung des Bygotters die Andern weit hinter sich gelassen und war zuletzt noch ganz in der Nähe des Wahnsinnigen gesehen worden.

Nun begannen sie ein lautes Schreien und Jammern, und Einzelne brachen in wilde Verwünschungen gegen den Bygotter aus: daß er bei der „Gottesstraf’“, die ihn ereilt, auch noch einen Unschuldigen mit ins Verderben hatte reißen müssen.

Als Karli diese Reden hörte, schien ihm ein heftiges Wort auf der Zunge zu liegen; doch schweigend wandte er sich ab. Und auch ein Zweiter stand wortlos vor all diesem Lärme – der Kommandant. Mit zitternden Händen zerrte er an seinem Schnurrbart und brachte die Augen nicht von der Erde.

Inzwischen begannen ein paar von den Männern schon mit Händen und Bergstöcken in den Schnee zu graben. Aber die mit Steinen und Geröll durchsetzte Masse lag wie festgestampft und angefroren. Man mußte um Geräthe und um weitere Leute gehen. Karli zögerte erst, er wollte bleiben – aber die Furcht, daß eine Kunde von dem Geschehenen auf unvorsichtige Weise ins Lehrerhaus dringen möchte, trieb ihn mit den Anderen ins Dorf hinunter.

Als sie den ersten Häusern nahe kamen, eilte Karli voraus. Er traf den Lehrer nicht an; doch versprach ihm die Frau, daß sie den ganzen Tag nicht von Sanni’s Seite weichen und daß sie auch weiterhin Alles dransetzen würde, damit die Genesende Nichts von dem Tode ihres Vaters erführe, ehe nicht ihre Besserung so weit vorgeschritten wäre, daß sie die böse Nachricht ohne Schaden für ihre Gesundheit hören könnte.

Nur halb beruhigt, eilte Karli durch das lange Dorf, in welchem die aufregende Kunde schon von Haus zu Haus geflogen war.

Daheim in der Stube fand er den Vater. Die zornige Erregung, die aus des Pointner’s Augen und Zügen sprach, verwandelte sich in starren Schreck, als er hörte, was Karli mit stammelnden Worten berichtete.

Während sich der Bursche müde auf einen Holzstuhl sinken ließ, rannte der Pointner jammernd in der Stube auf und nieder. Und schließlich fuhr er sich mit beiden Händen in die grauen Haare und hatte nur immer das eine Wort: „So a Tag – na – so a Tag – so a Tag!“

Als er wieder einmal aus dem Fensterwinkel gegen die Thür schoß, schwenkte er sich plötzlich gegen Karli herum, blieb vor ihm stehen, zerrte mit ungestümer Hand ein zerknittertes Blatt aus der Tasche, hielt es dem Burschen dicht vor die Augen und stotterte:

„Da – da – daß auch ’was Neus erfahrst – da lies amal!“

„Was hast denn da?“

„An Brief – und was für ein’! Kein’ halbe Stund’ noch is ’s her, da hat ihn a Bua ’bracht – a fremder – von der Bahnstation. So lies, sag’ ich – lies!“

Karli las; in seinen Händen begann das Blatt zu zittern; betroffen schaute er zum Vater auf, schüttelte den Kopf und las von Neuem.

Es war ein Brief von Götz, in schwerer, unsicherer Schrift mit Blei geschrieben.

Dieser Brief erklärte Alles und verschwieg nur Eins: den Weg, welchen Götz mit Kuni genommen.

„Na! Wer hätt’ sich so ’was ’denkt! So ’was!“ stammelte Karli mit schwankender Stimme.

Weiter ließ ihn der Pointner nicht reden. Er riß ihm das Blatt aus den Händen, zerknüllte es zwischen den Fäusten, und während er sein Auf- und Niedertrippeln wieder begann, tobte er gegen die Stubendecke:

„So ’was – ja – so ’was! Alles kommt über mich – Alles! Schand’ und Spott werd’ ich haben davon, und auslachen werden mich d’ Leut’ am hellen Tag’! Und wenn’s mir auch schon net um die Ander’ is – im Gegentheil – aufschnaufen thu’ ich – aufschnaufen – aber der Götz! Der Götz! Wie soll denn ich und der Hof ohne den Götz g’rathen können! Was fang’ ich denn an ohne den Götz!“

„Aber Vater! So sei doch g’scheit –“

„Na! Ich mag net! Ich möcht’ mein’ Götz wieder haben! Meinetwegen kann er Vater sein, zu wem er mag! Und weßwegen hat er denn da gleich fortlaufen müssen? Da hätt’ er ja bleiben können auch – erst recht! Na – so Eine! Das is Eine! Verführt mir mein’ Götz zum Davonlaufen!“

„Ja Vater, wie redst denn jetzt –“

„Ich red’, wie ich mag! Und ich laß’ net aus, ehvor ich net mein’ Götz wieder hab’! Und wenn s’ schon davonlaufen hat müssen, da wär’ s’ mir schon lieber mit ihrem Bruder davong’laufen – mit ihrem saubern! Ja – daß ich Dir’s sag’! Weißt, was g’schehen is? Im Wirthshaus hat er getrunken die ganze Nacht durch – und über sein’ Schwester hat er g’schimpft, daß ’s kaum zum Anhören war. Und noch Einer is dabei g’wesen, so a Vagabund, so a lumpiger! Der hat von Anfang schon an Rausch g’habt, und da hat er sich gift’, daß sich der noble Herr net zu ihm an Tisch setzt. Und Streit haben s’ ’kriegt – und der Lump hat ihm vorg’worfen, daß er amal falsch g’schworen hätt’ um seinetwegen – und der Schandarm is dazu ’kommen – und auf’packt hat er s’ alle Zwei und hat s’ dahin, schön Hand an Hand! In der Fruh, kaum daß zur Thür draußen warst, is d’ Walli daherg’rennt ’kommen – d’ Wirthskellnerin – ganz verweint! D’ Händ’ hat s’ z’sammg’schlagen über’m Kopf, und g’rad g’flennt und ’bettelt hat s’, ich sollt’ mich doch wehren um mein’ Schwager. Ja – Schnecken! Ich? Mich wehren? Um so an Schwager? Ja – so a Schwager, der kann mir g’stohlen werden! Aber natürlich – Schwager, Schwager – jetzt wird’s allweil heißen: a Schwager vom Pointner! Na! Na!“

Der Pointner schlug die Fäuste vor die Stirn, und die Thränen eines ohnmächtigen Grimmes rannen ihm über die Backen.

Wortlos saß Karli auf seinem Stuhle und starrte den Vater an.

Da trat der Pointner an eines der Fenster, als hätte irgend Etwas im Hofe seine Aufmerksamkeit erregt. Er schluchzte noch einmal auf; wischte die Hände über die Augen und stotterte mit gedrückter Stimme:

„Karli – da – Leut’ sind draußen im Hof. Entweder suchen s’ Dich – oder sie wollen sich Schaufeln und Hacken ausleihen.“

„Jesses na! Ich muß fort, Vater – fort!“ fuhr Karli erschrocken auf. „Ich muß mit ’nauf am Berg – ich muß!“

„Ja, Bua, ja, mußt schon gehn!“ seufzte der Pointner. „Na! Is das a Tag! Du lieber, lieber Gott! Und so an Unglück! Und so auf amal! Na! Na! Und das arme Deandl erst – das arme, arme Hascherl!“

Wenn diese Worte für Karli berechnet waren, so kamen sie zu spät, denn während der Pointner noch sprach, stand der Bursche schon im Hofe draußen. Die Leute, die er dort vorgefunden, waren in der That um Pickeln und Schaufeln gekommen. Karli schleppte herbei, was er nur zu finden wußte.

Dann eilte er mit den Leuten dem Sonnberg zu.

Als sie die Unglücksstätte erreichten, war die traurige Arbeit schon in vollem Gange.

Den Nachbar des Kommandanten fanden sie zuerst; trotz seiner gräßlichen Wunden zeigte er noch Leben; doch während sie ihn auf die Tragbahre betteten, verschied er ihnen unter den Händen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 876. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_876.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)