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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


schwindelfreie Bergsteiger sich ihm anvertrauen durften. Heute jedoch ist derselbe für Jedermann leicht zu passiren; die einst bedenklichen Stellen sind mit eisernen Geländern versehen, und wo früher glatte Felsplatten zu überschreiten waren, sind Stufen in das Gestein gehauen. Also frisch, ohne Zagen hinan!

Die Martinswand bei Zirl in Tirol. 

Die Grotte selbst scheint im Kalkfelsen durch Auswaschung entstanden zu sein. Sie ist etwa 12 Meter tief und am Eingange fast eben so weit. Auf steinernen Stufen mit eisernem Geländer steigt man darin zur Stelle empor, wo Max in Todesgefahr gestanden haben soll. Dort befindet sich ein zwei Meter hohes hölzernes Krucifix; Maria und Johannes stehen rechts und links davon. An der Rückseite des Kreuzes sagt eine halb verwaschene Inschrift, daß hier Kaiser Max „durch Gottes Vorsehung“ aus Todesgefahr befreit worden sei. Von einem Wunder erwähnt dieselbe Nichts. Eine zweite Inschrift in Marmor bezieht sich auf die bereits erwähnte Feier. Rings in der ganzen Höhle haben seit langer Zeit die Besucher ihre Namen in allerlei Schriften und Farben verewigt.

Werfen wir noch einen Blick auf die Gegend, ehe wir von der Kaisergrotte scheiden. Tief unten an der vorbeiziehenden Landstraße liegt das alte fürstliche Jagdschlößlein Martinsbühel. Hier entdeckte man vor mehreren Jahren menschliche Skelette, Artefakten, Eberzähne, Thonscherben, Sensen, alte Schlüssel, Römermünzen, Kupferkreuzer und Kanonenkugeln.

Die meisten dieser Gegenstände aus verschiedenen Epochen deuten darauf hin, daß an diesem Engpaß eine uralte Straßensperre sich befand, die verschiedene Völker benützt haben.

Drüben jenseit des Innstroms erhebt sich das malerische Plateau eines Mittelgebirges, hinter welchem die Hochtäler Senders, Vals und Sellrain sich aufthun. Unten rechts aber aus dem Innthal funkelt das Thurmkreuz des Dörfleins Zirl herauf. Steigen wir nun dort hinab!

Am Fuße des Berges kommen wir an einer Schlucht vorüber, aus welcher ein reißender Wildbach hervorbricht. Vor dem Eingange derselben erhebt sich auf steilem Felsen ein Kirchlein – der Zirler Kalvarienberg. Dahinter, zur Seite des Baches, stehen unter überhängenden, von Ruß geschwärzten Wänden zwei hölzerne Hütten, eine Gipsmühle und ein primitiver Brennofen. Durch eine derselben hindurch betreten wir die Klamm. Hohe groteske Felsmassen thürmen sich zu beiden Seiten auf, über die aus ferner Höhe der Solstein hereinschaut. Kein Sonnenstrahl dringt in die Tiefe. Unser Weg führt theilweise auf hölzernen Treppen fort an der Felswand; unter ihm rauscht der Bach durch die Schlucht, die häufig kaum die Breite von vier Metern erreicht. Ein eigenthümliches Bild bietet diese Klamm in der Abenddämmerung, wenn die rothe Gluth aus dem Brennofen ihr Licht aufs Gestein wirft und der Rauch an der schwarzen Felswand emporwirbelt. Gar Mancher mag sich dann an Dante’s Hölle gemahnt fühlen. Wir gehen wieder zurück und nehmen quer übers Feld den Weg nach Zirl. Bald ist die enge, krumme Dorfgasse erreicht, an deren Seiten malerische Bauernhäuser regellos neben einander hingebaut sind.

Die meisten derselben sind von Stein, andre wieder zur Hälfte Holz, zur Hälfte Mauerwerk; alle aber tragen den Typus des alten Tirolerhauses mit dem weit vorspringenden Schindeldach und den wuchtigen Steinen darauf, den kleinen Fenstern und dem hölzernen Laubengang. Nur die Gasthäuser zeigen einigermaßen den modernen Baustil und erfreuen sich durchweg eines sehr guten Rufes, weßhalb Zirl in neuerer Zeit ein besuchter Sommerfrischort geworden ist. Hierzu hat allerdings auch die prächtige landschaftliche Umgebung das Ihrige beigetragen. Ein Kranz majestätischer Gebirge umschließt das Thal: grüne Auen, Felder und schmucke Dörfer begleiten den schimmernden Strom. Hinter dem Orte, wo die Poststraße gegen Seefeld emporsteigt, erheben sich am Bergabhang die Ruinen des Schlosses Fragenstein. Die Burg ist bis auf zwei Thürme und einige Mauern in Schutt verfallen, des stolze Geschlecht, das einst dort gehaust, ist zu Grabe gegangen und vergessen; unvergänglich aber, wie die Felsen der Martinswand, bleibt im Volke die Erinnerung an Maximilian, den letzten Ritter.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 873. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_873.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)