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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Die Martinswand in Tirol.
Von J. C. Maurer.0 Mit Originalzeichnungen von R. Püttner.

Straße in Zirl.  
 Ruine Fragenstein.
Eingang zur Schlucht am Kalvarienberg.

Wenn der Reisende auf der Arlbergbahn von Innsbruck thalaufwärts fährt, treten ihm, der Station Völs gegenüber, am linken Innufer schroffe Felsen entgegen, welche aus dunkelgrünem Föhrenwald steil und grau zur Kuppe des Hechenberges emporsteigen. Unter ihnen fällt besonders eine fast senkrechte Wand auf, in der hoch oben eine Grotte mit einem Krucifix und zwei Heiligenstatuen sichtbar ist; es ist die vielbesuchte und sagenberühmte Martinswand.

Hier soll einst Kaiser Maximilian I. auf der Jagd einer angeschossenen Gemse wegen sich so weit ins wilde Geschroff hineingewagt haben, daß er endlich weder vor- noch rückwärts konnte und auf einer schmalen Felsplatte in schwindelnder Höhe festgebannt war. Stunde um Stunde ging dahin, jede Hilfe schien unmöglich; schon war der Geistliche vom Dorfe Zirl unter der Felswand mit der Monstranz erschienen, um dem Fürsten vor seinem nahen Sterben noch den letzten Segen und die Absolution zu ertheilen; da, während unten das Glöcklein klingelte, erschien plötzlich ein Kind an der Seite Maximilians und führte ihn auf einem früher nicht bemerkten Steige bergan zu einer sicheren Stelle. Hier aber war es plötzlich verschwunden. Zum Andenken an diese wunderbare Rettung ließ der Kaiser das Krucifix in der Felsengrotte der Martinswand aufstellen.

So erzählt die Sage. Mag dieselbe nun immerhin dem frommen Wunderglauben entsprossen sein, so bleibt doch jedenfalls die Thatsache möglich und wahrscheinlich, daß Kaiser Maximilian, der kühne Gemsenjäger und Bergsteiger, in diesem Gebirge in Todesgefahr gerathen und auf eine ungewöhnliche Weise gerettet worden sei. Das Andenken an dieses Ereigniß, das vor vierhundert Jahren geschehen sein soll, wurde am 21. Juli 1884 auf der Martinswand festlich begangen. Böller knallten, vom lauten Echo begleitet, an den Bergen hin, und die Klänge der österreichischen Volkshymne jubelten empor zur Kaisergrotte, während droben in derselben sich eine Schar wackerer, fürs Alpenland begeisterter Männer zusammengefunden hatte. Es galt der Enthüllung der neuen Maximilians-Büste, welche an jenem Tage dort aufgestellt worden war, und schwungvolle Reden verherrlichten das Andenken des letzten Ritters. Besondere Weihe erhielt aber das Fest durch die Anwesenheit der Turner aus Sachsen, die herbeigekommen waren, um mit ihren deutschen Brüdern in Tirol den Gedächtnißtag an die Rettung des ritterlichen Kaisers zu feiern. Es war ein Fest deutscher, brüderlicher Einigung, ein Tag, der in Tirol wie im Sachsenlande Vielen ein unvergeßlicher sein wird! –

Das Verdienst, dieses Fest ins Leben gerufen zu haben, gebührt dem Deutschen und Oesterreichischen Alpenverein und einem Komité von Tirolern, welche vereint während des vorhergehenden Sommers den Steig zur Grotte hatten in wegsamen Stand setzen lassen. Dieser Aufstieg war nämlich ehemals an manchen Stellen nicht ganz gefahrlos, so daß nur geübte und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 872. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_872.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)