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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


Im Kinderhospital.

Ein Skizzenblatt von Elise Polko.
„Schaffet die Thränen und  
Schmerzen der Kinder ab!“ 
Jean Paul.0  

Ein Kinderhospital! So lange ich denken kann, erfüllt mich die Sehnsucht, zu sehen, daß für kranke, verlassene Kinder Heilstätten errichtet werden, womöglich in jeder Stadt, in jedem Dorf: ich dachte mir’s so leicht, derartige Asyle einzurichten! Wenn ich nun in meiner Weise davon redete, sagte mein herrlicher, mildherziger Vater, der Alles hingab für die Armen, scherzend: „Warte, bis Dein Taschengeld dazu reicht!“ – Damals reichte es nur zum Freikauf von allerlei einheimischen Singvögeln, die auf den Wochenmärkten Leipzigs in engen niederen Holzkäfigen trübselig auf ihrem Stengel saßen, oder angstvoll, mit einer herzbeklemmenden Gleichmäßigkeit hin und her hüpften, so gut es eben gehen wollte. Ich fühle sie noch heute, jene Seligkeit, wenn wir nach abgeschlossenem Handel, einer meiner Brüder und ich, mit unserm Eigenthum abzogen und an irgend einer abgelegenen Stelle in den Anlagen, mit bebender Hand die Thürchen öffneten. Ein leichter Schrei – ein hastiges halb Flattern, halb Stürzen bis zum nächsten Ast, dann ein Schütteln und Spreizen der Federn, ein zweiter Schrei – ein Hinaustaumeln in die Luft, dann ein Auffliegen hoch in den blauen Aether!

Die Jahre schwanden – das Taschengeld reichte nie, bis zur Stunde nicht!

Ein Kinderhospital! Wie viele Zeit verging, ehe ich den Traum meiner Jugend zum ersten Male verwirklicht sah – zwar damals noch in einfacher Art, aber meine Augen blickten doch in ein Segensasyl, das sich jenen kleinen hilflosen Wesen erschloß, die im Banne der Schmerzen seufzten. Ein Kind ist für uns die Verkörperung der sorglosen Fröhlichkeit, des unbewußten Glücks; wir möchten uns ein Kind nicht anders denken, als von zärtlicher Sorge umgeben, wohl behütet, weich gebettet, lachend und jauchzend. Deßhalb zerreißt uns der Anblick eines traurigen, kranken, darbenden Kindes das Herz. Der große Shakespeare führt das Mitleid ein in Gestalt eines kleinen Kindes. Wie tief uns auch der Anblick der Noth und des Elends der Menschen erschüttert – Kindesleid rührt und ergreift uns doch am meisten.

Es ist ein erhebendes Gefühl, daß unsere Zeit für die armen verlassenen Kinder sorgt: es öffnen überall, an allen Orten und Enden, große und kleine Asyle ihre Pforten um sie aufzunehmen; es strecken sich fort und fort warme Hände nach ihnen aus. Und doch – wie viel giebt es hier noch zu sorgen, zu hoffen und zu wünschen, wie Manches ließe sich noch erreichen durch Opferwilligkeit!

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Das erste Kinderhospital erschloß sich mir in München. Es stand damals unter dem Protektorat der jetzt so schwergeprüften Königin-Mutter, geborenen Prinzessin von Preußen. Freiwillige Beiträge und Legate sowie die uneigennützigste Aufopferung des ärztlichen Leiters, des berühmten Kinderarztes Geheimerath Dr. Hauner, und der treuen Pflegerinnen, der barmherzigen Schwestern, ermöglichten das Bestehen.

Im ersten Jahre wurde das Kinderhospital mit nur zwölf Betten in einer gemietheten Wohnung eröffnet. Als ich es sah, hatte es schon sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum gefeiert, und es waren einige dreißig Betten aufgestellt in dem kleinen Hause in der Jägerstraße, das man gekauft.

Es war ein herrlicher Sommertag; der Menschenstrom wogte an uns vorüber hinaus in den englischen Garten, um den jungen schönen König zu sehen, der um diese Zeit dort spazieren fahren sollte. Equipagen rollten an uns vorüber mit ihren eleganten Insassen; überall heitere Gesichter, fröhliches, bewegtes Leben. Lachende Kinder an der Hand glücklicher Mütter hüpften daher. Und dort – jenseit der Mauer – wie viel Jammer und zugleich – wie viel rührende Sorge! Eine Art Gärtchen war angelegt – angefüllt mit verschiedenen kleinen Tischen, Stühlen und Krankenwagen. Da saß und lag denn die kleine Schar blasser Patienten, Knaben und Mädchen, unter der Aufsicht der barmherzigen Schwestern, die mit ihnen spielten. Die Kinder waren alle sauber gekleidet; Wäsche und Decken in den Wagen schimmerten in blendender Weiße. Ihre Pflegerinnen wandelten zwischen ihnen hin und her, brachten hier einem Durstigen Milch, theilten dort Brot aus, banden ein Schürzchen zu oder bückten sich nach einem gelösten Schuhband, lockerten einen Verband, rückten eben zurechtgelegte Kissen von Neuem, glätteten verschobene Decken mit sanfter Hand, lächelten den Frohen zu und trösteten die Traurigen – unermüdlich dienend und helfend heute wie gestern und morgen.

Auf unsere Frage nach der Oberin trat uns auf der Schwelle der Eingangsthür des bescheidenen Hauses eine schlanke Frauengestalt in der einfachen Ordenstracht entgegen mit dem gütigsten Antlitz. Unter ihrer Führung durften wir alle Räume durchwandern. In die Zimmer der kranken Knaben traten wir zuerst. Nie vergesse ich den herzergreifenden Anblick der kindlichen Leidensgesichter in ihren Gitterbettchen. – Ein reizender zweijähriger Junge richtete sich lustig krähend immer wieder auf; die großen Augen lachten in heller Freude trotz der Blässe der Wangen; er streckte die Arme nach der Oberin aus und – nach unsern kleinen Kuchen.

„Diesen Vormittag erst hat er eine Operation überstanden wie ein Held,“ sagte unsere Führerin und streichelte das lockige Köpfchen. „Könnte ihn jetzt seine Mutter sehen! Sie ist weit draußen auf dem Lande auf Arbeit, aber wir haben ihr einen Boten geschickt!“

Da lag vielleicht eben jetzt auf freiem Felde ein armes Weib auf den Knieen, im brünstigsten Gebet für ihr Kind, das sie selber in ihrem elenden Daheim nicht hatte hegen und pflegen können und dürfen und das es nun so gut hatte „wie ein Prinz“. Was sie wohl darum gegeben hätte, ihren kleinen Jungen so jauchzen zu hören! –

Das war der erste Eindruck eines Kinderhospitals. – Später saß ich gar manches Mal in jenem stillen kleinen Asyl der Kinderpflege-Anstalt der barmherzigen Schwestern in Minden und war Augenzeugin der Geduld und Liebe jener treuesten Hüterinnen verwahrloster und elender Kinder, die hier eine Zuflucht fanden und sich aus der dumpfen Stickluft eines dunklen, armseligen Daseins in eine reine Atmosphäre voll Sonnenschein und Frieden versetzt sahen.

Ein Asyl aber, wie man es nicht schöner träumen kann, betrat ich zuletzt in Köln. Die Hand einer einzigen Frau hat es errichtet – einer Trauernden, die den geliebten Gatten verlor. Es erscheint so natürlich, daß ein Frauenherz, von einem tiefen Schmerz betroffen, Trost sucht in der Linderung des Wehes Anderer – und doch, wie selten tritt dies in so strahlender Weise zu Tage, als eben hier!

Die jüngst verstorbene Baronin Abraham von Oppenheim hat sich und zugleich ihrem verklärten Gefährten, einem der edelsten, weit und breit bekannten Wohlthäter, durch ihr großartiges Kinderhospital ein unvergängliches Denkmal gesetzt. Glücklich, wer so geben kann – und doch finden sich verhältnißmäßig wenige unter den mit Reichthum Gesegneten, die in solcher Weise ihren leidenden Mitmenschen Gutes thun!

Seltsam erschien mir der Kontrast zwischen dem Prachtbau in der Severinstraße der alten Rheinstadt und jenem Kinderasyl in München.

Eine schöne edle Treppenhalle, erleuchtet von einer mächtigen Ampel, die ihr Licht durch bunte Scheiben ausstrahlte, empfing uns hier an jenem rauhen Novemberabend, als wir das Oppenheim’sche Kinderhospital betraten. Ueberall wohlthuendste Stille und gleichmäßige Wärme; der Schritt bleibt unhörbar auf dem mit Teppichen und Matten belegten Boden. Eine barmherzige Schwester – fünf versehen dort den Dienst – begrüßte uns als unsere Führerin; ihr mildes freundliches Gesicht mit den lieben Augen mußte den Kranken wie den Gesunden sympathisch sein.

In dem unteren Empfangszimmer, das zugleich ein großes prächtiges Spielzimmer war, schaute das lebensgroße und lebensvolle Bildniß Abraham von Oppenheim’s auf uns nieder; in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 855. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_855.jpg&oldid=- (Version vom 24.2.2024)