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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Johanne in das Zimmer mit einer Karte, ob Frau Doktor die Damen empfangen wolle.

Frau Doktor befahl, dieselben in ihr Zimmer zu führen, und nun saßen wir da, neugierig wie die Spatzen, denn ein Besuch per Extrapost war für unser sehr stilles Leben immerhin ein Ereigniß. Mademoiselle, die ebenfalls an Wissensdrang litt, lootste Johanne herein.

„Was ist’s?“ fragte sie.

„O, furchtbar fein!“ erwiederte das lustige Stubenmädchen, „die alte Tante im Sammetpelz, und die junge -“

„Eine junge? Sie soll wohl in Pension hier?“

„Noch Eine?“

„Nein, das geht nicht!“

„Das könnte uns fehlen! Wir sind ja schon zwölf!“ klang es durch einander.

„Dreizehn? Das bringt Unglück!“ meinte unsere Jüngste, die blonde Liddy.

„Das brauchen wir nicht zu leiden!“ erklärte Dora von Lindenberg.

Wir waren vor lauter Aufregung in unser geliebtes Deutsch zurückgefallen und sprachen durch einander, abermals wie die Spatzen, wenn sie Morgens erwachen.

„Wie heißen sie denn, Sie hatten ja die Karte, Johanna?“

„Frau Landrath von Ponianska nebst Enkelin,“ rapportirte das Mädchen und zog sich eilends zurück, denn die Glocke schellte aus Frau Doktors Zimmer

Ja, was würde es nur werden? O, Frau Doktor wird sie nicht nehmen, darin waren wir einig. Aber, siehe da, wir hatten uns geirrt, die Frau Landrath im Sammetpelz bestieg allein die Extrapost und fuhr mit dem Abschiedsgruß des Posthorns zum Städtchen hinaus, und bei der Abendtafel ward uns eine neue Hausgenossin, Numero dreizehn, vorgestellt und fand ihren Platz neben Frau Doktor, die liebreich und freundlich mit ihr sprach.

Sie war ein schlankes Mädchen von siebzehn Jahren. Ihre blonden Haare trug sie in einem festen Knoten am Hinterhaupte und so fest zusammengenommen, daß man nicht ahnen konnte, welch eine Fülle goldiger Wellen er barg. Auf der niederen mattweißen Stirn krausten sich ein paar schimmernde Löckchen, die wunderbar genug abstachen gegen die dunklen Brauen, welche sich über ein Paar tiefliegenden großen Augen wölbten, Augen, die in dieses Frühlingsgesicht gar nicht hinein zu gehören schienen: so traurig blickten sie in die Welt. Wenn die etwas schweren Lider gesenkt blieben, glich das schöngeformte Antlitz dem eines Kindes: so weich war der Zug um den schwellenden kleinen Mund, so thaufrisch die bleiche Haut, so zart die Rundung der Wangen. Hoben sich die Wimpern, so sagten die eigenthümlich grauen Sterne von Leid und trüber Erfahrung mit wahrhaft erschreckender Beredtsamkeit. Sie hieß Jascha im Institut; sie sprach das Deutsche mit einem eigenthümlichen Accent; ich hörte ihr weiches rollendes Zungen-R unendlich gern. Sie brachte es ohne jegliche Mühe hervor und wurde uns „sprachfaulen“ Andern, die so gern das R völlig ignorirten, in der Folge von dem alten Doktor Just als Muster aufgestellt. Der alte Mann konnte völlig in Begeisterung gerathen, las die weiche klingende Mädchenstimme eine Ballade. „Das ist Musik, liebstes Fräulein Jascha, Musik, meine Damen! Achten Sie auf dieses:

‚Hart stößt es auf am Strande –‘

Sie hören förmlich, wie der Uferkies knirscht, wie das Boot sich heran schiebt. Sie würden sämmtlich lesen: ,Hat stößt es auf am Stande‘ –“

Doktor Just blieb in der Folge so ziemlich der Einzige, der Jascha Ponianska Wohlwollen entgegentrug, uns blieb sie fast fremd, den Lehrerinnen auch, und der Frau Doktor, die sich sonst binnen wenigen Wochen die Herzen, auch der Sprödesten unter uns, zu gewinnen wußte, so daß wir sämmtlich mit schwärmerischer Begeisterung an ihr hingen, wollte dieses eine sich nicht zuwenden.

Jascha war stets ruhig; niemals gab ihr Benehmen zum Tadel Anlaß, nie aber that sie auch nur einen Schritt aus dieser Reserve heraus, und unsere für die Ewigkeit geschlossenen schwärmerischen Mädchenfreundschaften, das Raunen und Wispern, das herzerquickende Lachen, das Wichtigthun mit wirklichen oder eingebildeten höchst unschuldigen Geheimnissen, die kleinen muthwilligen Streiche, die wir ab und zu verübten, waren Dinge, für die sie kein Verständniß, nach denen sie kein Verlangen zu haben schien. Wir gaben es daher bald auf, sie für uns zu gewinnen, nannten sie „den polnischen Eiszapfen“ – sie kam aus der preußischen Provinz Posen – und kümmerten uns nicht mehr um sie als um ein Bild an der Wand.

Wenn wir in dem Pensionsgarten umhertollten, pflegte sie – denn hinaus mußte sie mit, um nach Vorschrift frische Luft zu genießen – an dem kleinen Weiher zu sitzen und in das Wasser zu starren, ein recht häßliches unheimliches Wasser, von dem die Sage ging, daß es keinen Grund habe. Es gehörte nicht mehr zu unserem Territorium, es lag bereits auf fürstlichem Gebiet, in dem verwilderten Park, der das Jagdschloß umgab, hier an die Gärten des Städtchens grenzte und nach jenseits in die Wälder überging, die sich meilenweit ausbreiteten. Und just hier hatte die hohe Buchenhecke unseres Gartens eine Lücke, und die Zweige schlugen manchmal über irgend eine helle Gestalt zusammen, wenn es Einer von uns gelüstete, dort am Weiher Vergißmeinnicht zu pflücken oder ein paar Wasserrosen, mit denen Ufer und See überreich geschmückt waren.

Nun, dort pflegte Jascha zu sitzen und wir ließen sie, denn sie war uns die Langweiligkeit in Person. Und Lotte von Dahlen, die mit ihr dasselbe Zimmer bewohnte, erklärte ganz offenherzig: es sei zum Verzweifeln, sie halte es nicht länger aus und werde Frau Doktor Degenhardt bitten, ihr eine andere Stube anzuweisen, sie habe nicht Lust, sich todt zu mopsen, wenn wir rechts und links in den Nebenstuben scherzten und kicherten.

Eines Tages, es war mittlerweile Hochsommer geworden, berathschlagten wir im Garten über die lebenden Bilder, die wir zu Frau Doktors Geburtstag stellen wollten, und da wir nothwendig noch eine Person gebrauchten für Vautier’s Tanzstunde und sie, nachdem sie uns ein Weilchen erstaunt angesehen ob dieser Zumuthung, den Kopf schüttelte und sagte: „Ich danke, ich möchte aber lieber nicht mitspielen, ich passe nicht dafür,“ brach bei uns Allen der Unmuth aus.

„Ja – nein – wie Sie wollen!“ – wir nannten uns mit Jascha „Sie“, gegen allen Komment – sei das Einzige, was diese polnische Prinzessin von sich gebe, erklärte Lotte, aber dafür weine sie sehr oft die halben Nächte hindurch, daß man kein Auge zuthun könne, und wenn man sie dann frage, was ihr fehle, schweige sie, oder es komme ein sanftes „O parrdon, störrte ich Sie? Ich habe wohl im Traume geweint. ich träume oft so schwer.“

„Und kurz und gut,“ schloß die niedliche Brünette und hob die schlanke Hand wie zum Schwur, „ich sage Euch, ich will nicht länger mit ihr wohnen, und wenn es Frau Doktor nicht auf meine Bitte ändert, so werde ich mich an Papa wenden, der wird schon dafür sorgen, daß –“

Wir standen alle Elf im Kreise um die Sprecherin – Numero Dreizehn, Jascha Ponianska, saß schon wieder am Weiher außer Hörweite – und waren sämmtlich einer Meinung mit Lotte von Dahlen. „Sie kann ja allein schlafen!“ fügte sie eben noch hinzu.

„Das wird sie nicht, Charlotte!“ scholl da die Stimme der Frau Degenhardt plötzlich in unsere Ohren. Blitzschnell hatten wir Front gemacht und sahen unsere vergötterte Pensionsmutter mit recht verlegenen Gesichtern an.

„Du, Charlotte,“ sagte diese mild, aber bestimmt, „wirst Dein Bette mit Mary tauschen, ich hoffe, sie wird duldsamer sein.“

Aller Blicke hatten sich nach mir gewendet bei Nennung meines Namens. Ich stand fast bestürzt da, und meine Augen füllten sich mit Thränen, es war so wunderschön gewesen bisher mit meiner geliebten Dora in einem Zimmer, und nun sollte das plötzlich Alles vorbei sein? Das heimliche Schwatzen von Bett zu Bett, wenn der Mond verstohlen ins Fenster blickte, das Ausmalen künftigen Glückes, die heimliche Lektüre unseres interessanten Romans, den wir uns bei einem Stearinnachtlichte mit gedämpfter Stimme vorlasen. Wir waren ja just in der Mitte und so recht in der spannendsten Verwickelung: wie sollte ich nun erfahren, was aus Leonore von Rothsattel würde in Freytag’s „Soll und Haben“?

Dora warf mir einen traurigen Blick zu, ich senkte den Kopf und unterdrückte ein Schluchzen, zu widersprechen wagte ich nicht.

„Geh jetzt, Mary,“ klang abermals das milde Organ unserer Vorsteherin, „und setze Johanna von dieser Aenderung in Kenntniß. Ich verlasse mich darauf, daß es freundlich geschieht, ich kenne ja Dein gutes Herz.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 842. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_842.jpg&oldid=- (Version vom 26.3.2023)