Seite:Die Gartenlaube (1887) 835.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


Das erste Jahr im neuen Haushalt.
Eine Geschichte in Briefen. 0 Von R. Artaria.
XIII.
Neustadt, d. 10. Juli. 

Unsere projektirte Ferienreise nach Hause muß einen Aufschub erleiden, liebste Marie, Ihr braucht morgen noch keine Kränze zu winden! Hugo, der sich schon seit ein paar Tagen unwohl fühlt, hat heute eine tüchtige Halsentzündung. Schonen will er sich natürlich nicht, aber daß er so nicht reisen kann, das sieht er doch ein. Ich habe eben Mama abgeschrieben; indessen hoffen wir doch, in einigen Tagen fortzukommen; wir müssen es eigentlich, denn Rike ging am Ersten und statt ihrer ist nur eine Aushilfe da. Bis zu unserer Rückkehr im August kommt dann ein neues Mädchen von weniger stürmischem Temperament, die sich hoffentlich vor dem großen Ereigniß im Herbst noch gut eingewöhnen wird.

Ach, wenn wir doch Samstag fort könnten! Sehr in Eile

Deine Emmy. 
D. 14. Nachts. 

O Marie, Marie! In Verzweiflung schreibe ich Dir heute. Hugo ist schwer krank, es ist die Diphtheritis und, wie mir der Arzt heute sagte, „kein leichter Fall!“ Ich bin innerlich fassungslos, wenn ich mich auch vor Hugo so viel als möglich zusammennehme. Er wird es vielleicht bald nicht mehr beachten; das Fieber ist so stark, die Noth in dem armen gequälten Hals so schrecklich! Sag’s der Mama schonend, ich schreibe morgen mit dem Frühesten wieder.

D. 15. 

Das Fieber steigt noch immer, der Doktor schüttelt den Kopf, wenn er das Thermometer betrachtet. Wir wenden jedes mögliche Mittel an, aber keins bringt ihm Linderung. Sorgt nicht um mich, Hugo’s Mutter ist bei mir.

D. 16. 

Er lebt noch, aber unter welchen Leiden! Was bevorsteht – ich weiß es nicht. Der Arzt will mich offenbar schonen und spricht sich deßhalb nicht aus. O, nur mitsterben können, wenn er stirbt – alles Andere wäre Verzweiflung! Aber nein, nein, nicht einmal denken kann ich das! O Marie, ich leide fürchterlich …

Es soll Niemand kommen, Niemand! Es ist mir eine Erleichterung, daß Papa die Mama nicht fortläßt, ich kenne ihre Scheu vor Ansteckung. Und – es muß bald entschieden sein, das ist unser trauriger Trost! …

Telegramm.
D. 20. 

Heute Morgen nur 38,5 Grad. Hals etwas freier, Arzt giebt Hoffnung. Brief unterwegs.

Reichenhall, den 14. August. 

  Meine theure Marie!
Endlich, endlich finde ich die Möglichkeit, den Brief zu schreiben, den Du Gute, Treue so lange schon haben solltest. Aber erst die schwere Sorge um Hugo, dann nach seiner Genesung die Uebersiedelung hierher: Alles das ließ mich zu keiner Ruhe kommen, heute aber, im Schatten eines allerliebsten Landhauses unter hohen Bäumen sitzend und dem Geläut der Sonntagsglocken ringsum horchend, fühle ich mich wie in einem neugeschenkten Leben, so tief glücklich und so innig dankbar. Dort unter den Kastanien in einer Hängematte ruht Hugo; er sieht noch ein Bischen blaß aus; aber er betrachtet sich bereits die Bergspitzen, die über den Garten hereinschauen, und spricht von baldigem Besteigen. Neben ihm sitzt seine Mutter, seine gute, großdenkende Mutter, und ich, Marie – ich sehe die Beiden an und freue mich innig ihres frohen Aussehens. Auf meine Bitte hat uns die Mutter hierher begleitet – aber ich muß etwas weiter ausholen, um Dir das zu erklären; sonst kannst Du es ja nicht verstehen!

Wie wir früher standen, weißt Du. Vollends nach jener Kolotschine-Geschichte zog ich mich sehr zurück; ich konnte es ihr nicht vergessen, daß sie mich wie ein Schulmädchen behandelt hatte, ging immer seltener hin. Natürlich kam sie auch wenig genug zu mir, und Hugo gab am Ende seine Bemühungen auf und besuchte die Mutter allein. Auch an jenem schrecklichen 14., als plötzlich das Fieber und die Halsschmerzen so stark wurden, daß ich mitten in der Nacht den Arzt holen ließ und mir dann mährend des Einpinselns und Eisumschlägemachens voll Angst überlegte, was nun werden solle in der öden Wohnung mit einer einfältigen Bauernmagd als einziger Hilfe – auch da kam mir kein Gedanke, nach der Schwiegermutter zu schicken.

Aber am andern Morgen, als ich müde und überwacht ein paar Augenblicke ausruhte, da stand auf einmal die alte Frau neben dem im Fieber glühenden Hugo. Er sah sie mit einem mühsamen Lächeln an und versuchte zu sprechen. Aber es gab nur ein heiseres Geflüster und sie winkte ihm dringend, zu schweigen. Während ich den Inhalationsapparat richtete, verschwand sie geräuschlos; als ich aber nach zehn Minuten rasch in die Küche lief, fand ich sie, eine große Schürze umgebunden, am Herd und im Begriff, der ungeschickten Lisbeth bei Bereitung der Kraftbrühe für Hugo zu helfen.

„Ich bleibe nun hier,“ sagte sie, als das Mädchen nach der Apotheke fortlief, „aber Du brauchst nicht zu erschrecken, Emmy, ich will weiter nichts, als Dir die Arbeit abnehmen, welche Dich verhindern würde, stets um Hugo zu sein. Du bist seine Frau und hast das ausschließliche Recht auf seine Pflege. Aber Dein Zustand erfordert Hilfe und die, welche Du hast, ist gar zu schlecht. Heute Nachmittag hole ich Lene her, und wir Beide Übernehmen dann das Hauswesen. Es kann nicht anders sein,“ fuhr sie wie entschuldigend fort, „ich meiß, daß Dir meine Gegenwart nicht angenehm ist, aber“ – hier brach ihr Schmerz erschütternd heraus, „es handelt sich ja um Hugo, um meinen Letzten, Einzigen! Wir wollen allein an ihn denken, nicht an uns Beide; willst Du das, Emmy?“

Sie streckte mir ihre Hände hin, ich legte die meine hinein. „Und die Ansteckung?“ hielt ich mich doch verpflichtet zu fragen, „fürchtest Du sie nicht?“

„Ich fürchte nur noch Eines,“ erwiederte sie. „Alles Andere ist daneben gleichgültig.“

Und von der Stunde an, liebe Marie, war es mir, als sei das eine ganz andere Frau, die ich jetzt kennen und lieben lernte. Es kamen die schlimmsten Tage und Nächte, wo ich furchtbar verlassen gewesen wäre, weil Alle das Haus mieden, aus Scheu vor der Ansteckung. Aber an meiner Seite stand fest und ruhig, Alles bedenkend und besorgend, stets mit Rath und That bei der Hand die seltene, edle Frau, die ich heute aus tiefstem, dankbarem Herzen über Alles liebe und verehre. Sie band sich an ihren Vorsatz, nicht die erste Stelle einnehmen zu wollen; ich sah sie mehr als einmal Magddienste thun, wenn Lene ausgegangen war, damit ich ruhig bei Hugo bleiben konnte. Und dabei – ich möchte ihr heute noch auf den Knieen dafür danken – verschmähte sie die Gelegenheit, mich zu demüthigen, die eine kleine Natur sicher benutzt hätte, gönnte sich nicht den Triumph, von mir auch bei Hugo zu Hilfe gebeten zu werden, sondern ging freundlich ab und zu und stand Abends, wenn ich die Nacht vorher bei ihm gewacht hatte, ungerufen an seinem Bett, mir zu sagen: „Lege Dich etwas, Emmy; ich wecke Dich auf, sobald Hugo Etwas bedarf.“

Dann saß sie, während ich von Erschöpfung schlief, die ganze Nacht wachsam und besorgt bei ihm und weckte mich nicht, und wenn ich mich Morgens beklagte, sagte sie freundlich: „Du bist es uns Beiden schuldig, mein Kind, Dich jetzt zu schonen. Alte Augen wachen leichter als junge!“

So schmolz, ehe ich recht wußte, wie, mein altes häßliches Gefühl gegen sie völlig dahin; erst war ich ihr nur dankbar; dann fing ich an, sie aufrichtig und von Herzen zu lieben, nur konnte ich es nicht recht fertig bringen, ihr das zu sagen und fühlte doch, daß ich es sollte und müßte.

Als es nun mit Hugo ganz entschieden besser ging und wir aus seiner unglaublichen Krittelhaftigkeit die besten Hoffnungen schöpften (obgleich dieses Stadium ganz anders ist als in den Romanen, wo man sich um den Hals fällt und schluchzt: Gerettet!), da saß ich eines Nachmittags, vom vielen Hin- und Herlaufen erschöpft, im großen Fauteuil im Eßzimmer und war offenbar in der kühlen Stille sanft und süß eingeschlafen. Denn ich hörte nichts von den Eintretenden, bis mich ihre gedämpften Stimmen wieder zum Bewußtsein brachten. Es waren meine Schwiegermutter und der Doktor, welche aus dem Schlafzimmer kamen und an der Thür auf dem Gang plaudernd stehen blieben. Ich war zu faul zum Aufstehen, behielt also die Augen geschlossen, als ob ich weiter schliefe.

„Sehen Sie nur," hörte ich sie sagen, „wie rührend hübsch das junge Geschöpfchen da im Lehnstuhl sitzt, die Hände über dem Hausschürzchen zusammengelegt. Wenn sie so schläft, tritt doch die reine Kinderseele auf ihr Gesicht, ich habe mich schon oft daran erfreut, sie zu betrachten.“

„Man kann Ihnen zu der Schwiegertochter gratuliren,“ sagte der Doktor höflich.

„Das kann man in der That,“ erwiederte sie mit Lebhaftigkeit, „Emmy ist eine prächtige Natur, wahrhaftig, gut und warm, mein Sohn ist glücklich, sie zu besitzen, und ich bin es für ihn. Ich gestehe ehrlich, daß ich früher anders dachte; es fehlte mir die richtige Art, sie zu behandeln, und deßhalb trug ich wohl die Hauptschuld an der zwischen uns herrschenden Kühle. Aber nun ist es anders geworden; ich kenne sie jetzt und habe sie von Herzen lieb gewonnen, die kleine Frau!“

Sie waren unter diesen Worten zur Thür hinausgegangen; ich aber sprang auf meine Füße, und als sie allein wieder hereinkam, fiel ich ihr um den Hals und rief: „Ich habe Dich auch von ganzem Herzen lieb, Du gute, gute Mutter, aber Du hast keine Schuld, ich allein – und ich bitte Dich um Ver…“ Da schloß sie mir mit einem Kusse den Mund und sagte: „Still, still, davon darf gar nicht mehr die Rede sein!“

Tags darauf saßen wir zum ersten Mal mit Hugo nachmittags im Hausgärtchen. Er sah uns mit sehr vergnügten Blicken an, aber sonst war Alles unerträglich. die Mücken, der unbequeme Lehnsessel, das Halstuch, welches ich niemals lernen würde, richtig zu knüpfen, und vor Allem der niederträchtige Krautgarten um uns her. Wir ließen ihm sein RekonvalescentenvergnÜgen, nur als er ganz elegisch seufzte: „Ja, wenn man wenigstens nach Reichenhall könnte!“ da sagte die Mutter ruhig: „Das könnt Ihr ja,“ und ich fügte hinzu: „Das können wir, willst Du sagen, liebe Mutter!“

Ach Marie, wenn ich denke, wie viele Menschen sich mit Antipathien das Leben verbittern, die keinen besseren Grund haben, als diese meine so vollständig überwundene, da dauert mich Jeder, der den häßlichen Ballast nicht aus seinem Herzen wirft!

Und nun sitzen wir in Reichenhall, sehen alle Morgen die Bergherrlichkeit um uns her und genießen die Tage und Wochen. Nicht mehr allzuviel der letzteren und ein ernstes Ziel naht heran, an das ich in der Aufregung der letzten Zeiten kaum je dachte. Aber nun – wie wird es werden? Ist die schwermüthige Weichheit, die oft über mich kommt, der Vorbote, daß vielleicht diesen Herbst schon die Astern auf meinem Hügel stehen?? … Manchmal kommen mir die Thränen bei diesem Gedanken, aber dann sucht mich Hugo zu ermuntern durch die Frage, ob wir unseren Sohn Hans, Kunz, Klaus oder Peter nennen wollen!

Jetzt wird er ungeduldig in seiner Hängematte. Leb wohl, mein liebes Herz! Deine Emmy. 

Meinst Du nicht, Sigfried wäre auch sehr hübsch? Oder Tristan? Lohengrin kommt mir doch ein Bischen romantisch vor! …



Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 835. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_835.jpg&oldid=- (Version vom 15.5.2023)