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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

No. 47.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Die Geheimräthin.

Novelle von Hieronymus Lorm.
(Fortsetzung.)

Als Brigitta allein war, erhob sie sich nicht von ihrem Sitze. Die Arme von sich gestreckt, die Finger in einander geschlungen, als ob sie bewegungslos die Hände gerungen hätte, wiederholte sie sich im Innern unaufhörlich, daß die Tochter Glowerstone’s während der ganzen langen Zeit, in der sie heimlich vor dem Unbekannten gebebt hatte, in der That kein Gespenst war, daß sie leibhaftig Abend für Abend dem Manne gegenüber gesessen haben mußte, der es geleugnet hatte.

Nein! er hatte keine Lüge gesagt, keine einzige Lüge. Was war es doch, wodurch sie sich am letzten Sonntage, als die Angelegenheit zum ersten Male zwischen ihr und Siegfried ganz zur Sprache gekommen war, so tief beruhigt, so völlig beglückt gefühlt hatte? Was war es doch? Er hatte ihr gesagt, Albert Glowerstone hätte hier in einem Hotel gewohnt wie ein Junggeselle, und keiner seiner Angehörigen sei bei ihm gewesen. Ja, das war auch die volle Wahrheit; nur lag heimlich in ihr eingeschlossen die perfideste Lüge.

Brigitta sprang auf. Sie wollte es sich nicht gefallen lassen. Sie hatte jetzt jahrelang dieses Glück behütet und bewacht, gepflegt und geliebkost wie eine Mutter ihren Säugling. Sollte sie es sich entreißen lassen? Eher ihr Augenlicht! Ihr gehörte er an, ihr allein. Tag für Tag hatte sie von Neuem um ihn geworben, stumm zwar, ohne die Phrasen und ohne die Zeichen der Leidenschaft, der thörichten Verliebtheit, aber mit dem Opfer, mit der Hingebung ihres ganzen Seelenlebens. Hohnlachend war von ihr, die an der Seite ihres Mannes nicht gelebt hatte, jede Verlockung zurückgestoßen worden, sich in eine Existenz zu bringen, die ihrer Person, ihrer Schönheit gebührte. Ihm hatte sie sich aufbehalten, beglückt schon dadurch, daß sie mit Gewißheit den Bund mit ihm erwarten durfte. Sollte er das Recht haben, ihr die Brust zu zerreißen, als ob die Krallen eines Raubvogels sie gepackt hätten? Sie wollte sich wehren; kein Unrecht, kein Verbrechen durfte an ihr begangen werden. Aber giebt es ein Recht, existirt ein Gesetzbuch für die Liebe, sitzt ein Richter auf dem Forum, um über die Irrgänge, die Schleichwege falscher Herzen ein Urtheil zu fällen, eine Strafe zu verhängen? War sie nicht verlassen und ohnmächtig?

Sie warf sich auf das Sofa, in dessen Kissen sie ihr Gesicht vergrub, bis ihren Augen heiß und gewaltsam die Thränen entströmten. Aber nicht lange, so stand sie wieder aufrecht, zum Aeußersten entschlossen.

Er ist bei ihr, sagte sie sich, er wirbt um sie; ich will sie von einander reißen. Der Tag darf nicht kommen, an welchem sie sich die Seine in der Zukunft glauben könnte. Was liegt mir noch an meinem Leben, wenn ich ihn nicht zu meinen Füßen zurückführe, und es sollte mir an Ruf und Schicklichkeit noch etwas gelegen sein?

Still faßte sie ihre Gedanken zusammen, nachdenkend saß sie an ihrem Schreibtisch. Heute noch mußte etwas geschehen; sie mußte zu handeln beginnen;


Die Rekruten. 0 Originalzeichnung von J. R. Wehle.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 773. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_773.jpg&oldid=- (Version vom 5.11.2023)