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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

und diese war es, welche zuerst die Aufmerksamkeit des Knaben auf sich zog. Er nahm das Buch, blätterte darin und besah die Illustrationen. Dann begann er zu lesen, und als er eines Mittags vergeblich zum Essen gerufen worden war, fand ihn der Vater dicht an einem der kleinen, lichtspendenden Dachfenster eifrig in das Buch vertieft. Er las die Lebensgeschichte von James Watt, dem Erfinder der Dampfmaschine, und diese brachte in seinem Wesen einen vollkommenen Umschwung hervor. Er hatte den Gegenstand gefunden, nach welchem er sich unbewußt gesehnt, und mit eiserner Energie arbeitete er fortan an der Erwerbung und Erweiterung aller bezüglichen Kenntnisse. Die Ruhelosigkeit war verschwunden, an ihre Stelle ein zielbewußtes Streben getreten, und in den leicht faßlich geschriebenen Jugendbüchern boten sich ihm die ersten fördernden Helfer.

So sollten stets die individuellen Neigungen unserer Kinder in ihren Anfängen sorgsam beachtet und in ihrer weiteren Entwickelung verständig geleitet, gefördert oder, wenn nöthig, gehemmt werden. Wünscht man ihre Förderung, so gebe man ihnen Bücher, welche den Gegenstand ihrer Neigung in anziehender Darstellung behandeln und so diese Neigung immer mehr beleben und kräftigen; scheint es aber geboten, einer individuellen Veranlagung entgegen zu treten, so suche man durch abweichende Lektüre zunächst einer schädlichen Weiterentwickelung derselben vorzubeugen und dann durch zweckmäßig gewählten Unterhaltungs- und Bildungsstoff allmählich die Begabung und das Interesse des Kindes in andere Bahnen und einem anderen Ziele zuzulenken. In beiden Fällen bewährt sich die Jugendlitteratur als ein vorzügliches Erziehungsmittel, dessen gewissenhafter Anwendung man nur das Wort reden kann. Allerdings muß dieses „gewissenhaft“ nachdrücklich betont werden, und man darf sich noch nicht damit begnügen, dem Kinde eine seinem Alter und seiner Individualität einigermaßen angemessene Lektüre zu verschaffen, sondern muß durchaus auch des Wahrspruchs eingedenk bleiben, daß für die Jugend nur das Beste gut genug ist. Dietrich Theden.     



Christoph Willibald Ritter von Gluck.

Ein Gedenkblatt zum 100jährigen Todestage (15. November 1787) des Reformators der Oper.
Von Ernst Pasqué.

Reformator der Oper! Ein schwerwiegendes Wort. – Schon der Beginn, die Geburt der Kunstgattung, welche wir Oper nennen, war eine Reform. In Peri’s „Daphne“ und „Eurydice“, den ersten nur gesungenen musikalischen Dramen, welche in den Jahren 1597 und 1600 entstanden, wird das „Madrigal“, der mehrstimmige Gesang, durch die „Monodie“, den Einzelgesang, im „Stile rappresentativo“ ersetzt, und heute, ein Jahrhundert nach Gluck, hat Richard Wagner eine weit vollständigere Umgestaltung der Oper bewerkstelligt. Gluck aber hat das Verdienst, die dramatische Musik mit den zu seiner Zeit beschränkten Orchestermitteln zu größtmöglicher Vollendung geführt und dadurch den Grund gelegt zu haben, auf dem die ihm nachfolgenden Meister mit immer mehr vervollkommneten Mitteln weiter zu bauen vermochten. Somit verdient er, unbeschadet seines italienischen Vorgängers, der den Weg eröffnete, und seines machtvollen deutschen Nachfolgers, mit Recht den Namen eines „Reformators der Oper“.

Christoph Willibald Gluck.

Gluck wurde geboren am 2. Juli 1714 zu Weidenwang [1], einem Dörfchen in der bayerischen Oberpfalz, wo ihm später ein Denkmal errichtet wurde. Der Vater war Förster; er trat 1717, drei Jahre nach der Geburt seines ältesten Sohnes Christoph, in gleicher Eigenschaft in fürstlich Lobkowitz’sche Dienste und siedelte nach Komotau in Böhmen über, wo dann der junge Gluck seine Schul- und musikalische Bildung erhielt. Letztere vervollständigte er später in Mailand bei dem Organisten Sammartino und brachte auch dort, 1741, seine erste Oper „Artaserse“ zur Aufführung. Schon bei diesem Erstlingswerke zeigte sich das Bestreben des jungen sechsundzwanzigjährigen Tonkünstlers, von den ausgetretenen Bahnen der italienischen Oper abzuweichen. Nur eine Arie im althergebrachten Stile hatte er auf den Proben eingefügt, wohl um zu zeigen, daß er auch in dieser Weise komponiren könne. Das Werk erregte anfänglich Staunen, theilweise Mißfallen; nur die eine eingelegte Arie gefiel. Doch bald änderte sich dies und zwar vollständig. Das Publikum fand immer mehr Gefallen an der eigen- und fremdartigen musikalischen Form der Oper, und schließlich sogar, daß die verschnörkelte Arie nicht hineinpasse, welche denn auch weggelassen werden mußte. Dies war der erste, aus innerem Triebe, nicht mit berechnender Absicht unternommene Schritt auf neuer Bahn – und zugleich ein erster Erfolg. – Noch zwei Jahrzehnte sollte es dauern, bis Gluck sich seines Strebens vollständig bewußt war, bis das in der Jugend nur geahnte Ziel sich klar und bestimmt seinem geistigen Auge zeigte. Dies Streben und Ringen läßt sich in den zahlreichen Werken, die er von 1741 bis 1762 für London, Italien und Wien schrieb, deutlich erkennen. Einen der überzeugendsten Belege dafür bildet ein Ausspruch des großen neapolitanischen Tonmeisters Durante. Im Jahre 1751 schrieb Gluck für Neapel die Oper „La Clemenza di Tito“ von Metastasio, in welcher der Kastrat Caffarelli, einer der berühmtesten Sänger seiner Zeit, die Hauptrolle sang. Für diesen komponirte Gluck eine Arie (eines der bedeutsamsten Musikstücke des Meisters), die einen wahren Aufruhr unter den neapolitanischen Musikern hervorrief. An einer Stelle der Arie, wo Caffarelli einen Halt mit Koloraturen und Trillern auszuführen hatte, ließ Gluck das Orchester eigene, ganz ungewohnte Wege gehen, und die Widersacher des kühnen deutschen Meisters klagten ihn bei Durante der Verletzung des reinen Satzes an. Nachdem dieser die betreffende Stelle der Partitur lange und ernst geprüft hatte, sprach er Folgendes zu den Musikern: „Ich mag nicht entscheiden, ob diese Stelle den Regeln der Komposition so streng gemäß sei; allein das vermag ich Euch zu sagen, daß wir Alle, bei mir angefangen, uns sehr rühmen dürften, eine solche Stelle gedacht und geschrieben zu haben.“

Außer dem tief eingewurzelten Geschmack des Publikums standen Gluck zwei große Hindernisse im Wege, das, was in ihm lebte, zu verwirklichen: die süßlichen Verse, die wenig dramatische Form der italienischen Libretti des nun einmal maßgebenden, auf diesem Gebiet unumschränkt herrschenden Abbate Metastasio, sodann die unmännliche leidenschaftslose Gesangs- und Darstellungsweise

der italienischen Sopran- und Altsänger. Er konnte nur mit solchen experimentiren – eine deutsche Oper gab es zur Zeit noch nicht, und die Pforten der französischen, wo nur

  1. Urkundlich festgestellt durch den 1857 verstorbenen Kustos der k.k. Hofbibliothek Anton Schmid, in seinem 1854 erschienenen Buche: „C. W. Ritter von Gluck“.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 764. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_764.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2023)