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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

und den Bergsport begünstigen oder haben wir nicht vielmehr die Pflicht, ihn mit allen Mitteln zu bekämpfen? Diese Frage hat in den letzten Wochen unendlich viele Gemüther beschäftigt, und es erscheint darum nicht ganz überflüssig, die Bedeutung des Bergsteigens allseitig zu prüfen und den Werth desselben gegenüber den damit verbundenen Gefahren sorgfältig abzuwägen.

Daß die ersten Besteigungen von Hochgipfeln wie überhaupt die früheste Bereisung entlegener Gebirgsgegenden zumeist in wissenschaftlichem Interesse ausgeführt wurden, habe ich bereits erwähnt. Die Erforschung des Hochgebirges war und ist von der größten Bedeutung für die Lösung wichtiger physikalischer, meteorologischer, geographischer, geologischer, botanischer und zoologischer Fragen. Wissenschaftliche Interessen sind aber heute in den weitesten Kreisen verbreitet, und da das Hochgebirge dem Forschungstrieb eine der vielseitigsten Fundgruben darbietet, so wandern alljährlich zahlreiche Jünger und Freunde der verschiedensten Disciplinen in die Berge und unterziehen sich dort nicht selten beschwerlichen und gefahrvollen Hochtouren. Wer im Dienste der Wissenschaft das Bergsteigen ausübt, hat die Verpflichtung, alle Vorsichtsmaßregeln anzuwenden; wird er dennoch vom Unglück betroffen, so fällt er, wie der Soldat auf dem Schlachtfeld, in der Erfüllung seiner Pflicht, und Niemand hat das Recht, einen Vorwurf gegen ihn zu erheben.

Freilich, von den zahlreichen Besuchern des Hochgebirges gehört nur ein kleiner Theil zu den Naturforschern oder Dilettanten auf dem weiten Gebiete der Naturwissenschaften. Was ist es also, das Tausende mit unwiderstehlicher Gewalt nach den Bergeshöhen zieht? Welcher Zauber führt diejenigen, welche das Hochgebirge kennen gelernt, immer und immer wieder dahin zurück? Wer je herabgeschaut von der beherrschenden Spitze eines Gebirgsstockes auf die schneegekrönten Hochgipfel und felsigen Zinnen der Umgebung, wer je staunend zu seinen Füßen glitzernde Firnfelder, bläulich schimmernde Gletscher, langgestreckte Gebirgskämme, grüne Thäler und mit silberglänzenden Flüssen und Seen geschmückte Ebenen ausgebreitet sah, wer die Farbenpracht der Alpenblumen und den wunderbaren Sonnenglanz in lichten Bergeshöhen kennen gelernt, wer, dem unruhigen Treiben der Menschen entrückt, glückliche Stunden in der Einsamkeit des Hochgebirges zugebracht, wer die köstliche, alle Lebensgeister anregende Wirkung der Höhenluft an sich empfunden – dem wird die Antwort auf jene Frage nicht schwer fallen.

Kaum giebt es einen das menschliche Gemüth tiefer ergreifenden und jedem Bildungsgrade verständlicheren ästhetischen Genuß, als die Betrachtung einer schönen oder großartigen Natur, und im Hochgebirge tritt sie uns vielleicht in ihrer erhabensten Gestalt entgegen. Allerdings muß dieser Genuß erkämpft werden und wird nur Demjenigen voll und ganz zu Theil, welcher die mit der Besteigung von Hochgipfeln verbundenen Beschwerden ohne Ermattung oder Gefährdung der Gesundheit zu ertragen im Stande ist. Und damit berühren wir eine der wichtigsten und bestrittensten Seiten des Bergsteigens.

Ueber den wohlthätigen Einfluß der Gebirgsluft und einer mäßigen Bewegung auf den menschlichen Organismus giebt es wohl kaum noch eine Meinungsverschiedenheit; dagegen sind die Ansichten über den hygienischen Werth anstrengender Bergtouren ziemlich getheilt. Entschieden schwächlichen, mit Herzfehlern behafteten oder zu Kongestionen neigenden Personen kann andauerndes Bergsteigen leicht verhängnißvoll werden, aber selbst für Menschen von normaler Gesundheit und Körperkraft bedarf es einer gewissen Schulung, um ohne Gefahr Hochtouren unternehmen zu können.

Auch das Bergsteigen muß gelernt werden. Erst durch allmähliche Gewöhnung an die Schwierigkeiten beim Gehen im Gebirge, durch die Bewältigung von anfänglich leichten und immer schwierigeren Aufgaben erlangt der Körper die nöthige Sicherheit, Kraft, Gewandtheit und Ausdauer. Wer ohne jede Vorbereitung sogleich die schwierigsten Gipfel erklimmen will, macht sich eines unverantwortlichen Leichtsinns schuldig, darf doch selbst der erprobte Bergsteiger nach längerer geistiger Berufsthätigkeit seine Ferien nicht mit einer scharfen Hochtour beginnen. Uebermäßige Ermüdung mit nachfolgenden Muskelschmerzen gehören zu den gelindesten Folgen eines Verstoßes gegen diese Regel. Die verständige Uebung im Bergsteigen gewährt dagegen eine Erholung, welche kaum mit einer anderen verglichen werden kann; sie erzielt häufig in kurzer Frist bessere Wirkungen, als ein wochenlanger Aufenthalt auf dem Lande oder in einem Badeort, bei dem mehr auf gute Verpflegung, Bequemlichkeit und angenehme Unterhaltung Bedacht genommen wird. Die allseitige Durcharbeitung des ganzen Körpers bei längeren Fußwanderungen und der damit verbundene energische Stoffwechsel haben eine Kräftigung der Muskeln, Nerven und der Lunge zur Folge, wie sie kaum durch eine andere Leibesübung erreicht wird.

Wem es gelingt, seinen Körper so weit auszubilden, daß die mit längerem Bergsteigen unvermeidlich verbundenen Schwierigkeiten spielend überwunden werden, wer selbst bei anstrengenden Märschen seine volle körperliche Frische und geistige Empfänglichkeit bewahrt und im Wandern, Steigen und Klettern, kurz im Besiegen natürlicher Hindernisse an und für sich eine Körper und Geist anregende Thätigkeit findet, der besitzt die zu schwierigen Hochtouren erforderliche Befähigung. Nicht Jedermann ist es vergönnt, diesen Grad von körperlicher Gewandtheit zu erringen, die Leistungsfähigkeit ist ja nach Alter, Geschlecht und physischer Beschaffenheit unendlich verschieden. Aber auch für schwächere Kräfte giebt es eine Fülle von lohnenden Bergtouren, so daß der Genuß des Hochgebirges nur Wenigen gänzlich versagt bleibt. Bei zweckmäßiger Ausbildung im Bergsteigen wird nicht allein die für Hochtouren durchaus erforderliche Sicherheit von Fuß, Arm, Auge und Kopf allmählich errungen, sondern es stellen sich auch die individuellen Grenzen der Leistungsfähigkeit bald heraus. Ich kenne Mitglieder des Alpenvereins, welche an Gewandtheit und Ausdauer den besten professionellen Bergführern gleich stehen. Wenn zwei oder drei solcher Virtuosen sich zusammen gesellen, so dürfen sie ohne Scheu Unternehmungen wagen, die anderen Sterblichen unerreichbar oder nur mit Beihilfe erprobter Führer gestattet sind.

Gegen elementare Gefahren, wie plötzliches Unwetter oder dichten Nebel, gewährt freilich, wie die Katastrophe auf dem Gipfel der Jungfrau beweist, auch die höchste körperliche und geistige Ausbildung keinen sicheren Schutz, während andere dem Anfänger verhängnißvolle Schwierigkeiten, wie Lawinen, Steinfall, ungünstige Terrain-, Schnee- oder Eisverhältnisse durch Erfahrung, genaue Ortskenntniß und Geschicklichkeit vermieden oder überwunden werden können. Unter allen Umständen bilden führerlose Besteigungen jungfräulicher Hochgipfel einen Sport, der nicht viel mehr Sympathie verdient, als das unsinnige Bestreben, eine verhältnißmäßig leicht zugängliche Bergspitze von einer Seite zu erklimmen, welche scheinbar unüberwindliche Hindernisse bietet. Führerloses Alleingehen oder geflissentliches Aufsuchen von Gefahr hat schon manches Opfer gefordert, und gerade solche Fälle haben mit Recht die öffentliche Meinung am meisten aufgeregt. Durch die Schilderung derartiger Unternehmungen, wobei die überstandenen Gefahren bald in den lebhaftesten Farben ausgemalt, bald mit einer gewissen Affektation als geringfügig dargestellt sind, werden namentlich jugendliche Gemüther zur Nachahmung angespornt und auf ein Feld geführt, auf dem sie mit verhältnißmäßig leichter Mühe Ruhm und Lorbeern pflücken zu können vermeinen. So lange noch solche Heldenthaten, zu denen jeder tüchtige Bergführer befähigt ist, Bewunderer finden, so lange nicht derartige Leistungen beurtheilt werden wie die eines Athleten, Kunstreiters, Taschenspielers oder dergleichen, werden Unglücksfälle, wie sie die Annalen des Bergsports nur zu reichlich aufweisen, immer und immer wiederkehren. Solchen Auswüchsen soll und muß die öffentliche Meinung mit Entschiedenheit entgegentreten, gegen sie können zwar nicht Gesetzesparagraphen oder polizeiliche Vorschriften Abhilfe schaffen, wohl aber ist es Pflicht der Presse und der alpinen Vereine, durch Belehrung und sonstige Maßregeln die überschäumende Kraft der Jugend in die richtigen Bahnen zu lenken.

Wurden in früherer Zeit die Gefahren des Hochgebirges überschätzt, so hat jetzt vielfach eine Unterschätzung derselben Platz gegriffen. Im Bergsteigen völlig Unerfahrene wagen sich nicht selten ohne Führer, ohne passende Kleidung, ohne genagelte Bergschuhe, ohne Ausrüstung mit Steigeisen, Seil, Bergstock oder Eispickel an die schwierigsten Hochtouren. Daß solche Unternehmungen leicht ein trauriges Ende finden, ist nur zu begreiflich.

Durch Anlage von Wegen, durch Markirung von Fußsteigen, durch Anbringen von Orientirungstafeln ist in den letzten Jahren in den Alpen unendlich viel geschehen, um Touristen oder Spaziergänger beim Besuche leicht zugänglicher Aussichtspunkte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 720. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_720.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2023)