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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Das hat ihn geärgert, ich weiß es! Und ich werde ihn noch viel mehr ärgern, denn sein coup de foudre ist schuld, daß wir heut zur Gräfin Nolimé eingeladen sind und ich nicht in Onkels Atelier sein kann, wenn er Besuch bekommt. Herr Heinrich kann den Trauermantel auch nicht leiden, das hab’ ich bald gemerkt.

10 Uhr Abends. 
Eben fertig mit Anziehen, warte auf Tante, sie fängt erst an. Er ist bei Onkel. Das Fenster steht offen, ich höre seine tiefe Stimme. Ach – wenn er mich doch sehen könnte; mein Anzug ist nämlich sehr hübsch geworden. Tante hat mir von ihren echten Spitzen gegeben und Pauline hat ein entzückendes Vogelnestchen daraus gemacht. Das sitzt auf meiner linken Schulter und darin steckt ein längliches Bouquett von Rosen und Vergißmeinnicht. Pauline hat mich auch frisirt – o, wie ist sie geschickt! Meine gewöhnliche Frisur, aber wie das gleich anders aussieht! Wie stell’ ich’s nun an, um ins Atelier zu kommen … Ich werde Onkel fragen, ob ich ihm morgen seine Pinsel waschen darf? – Das ist doch gewiß ein guter Vorwand!

(Schluß folgt.)




Mahnungen aus den Hochalpen.

Von Heinrich Noë.
(Schluß.)


Nur der steile Kamin trennte uns noch von der Jochhöhe. Am Tage wäre es kein Kunststück gewesen, denselben zu durchklettern, da man die Eisplatten und gefrorenen Schneekrusten, melche hier und da seinen geneigten Geröllboden unterbrachen, wohl entweder vermeiden oder mit einiger Vorsicht gefahrlos begehen konnte. Nunmehr lag aber der dunkle Schatten der Nacht in der engen Röhre, in welche die Mondstrahlen keinen Eingang fanden.

Trotzdem erreichten wir so ziemlich ohne absonderliche Anstrengung ungefähr die Mitte des Kamins. Der Ingenieur keuchte hinter mir her, der Führer irrlichterte mit seiner nutzlosen Laterne in einiger Entfernung voraus.

Ich weiß nicht, welche Erscheinungen den Ersteren mit einem Mal so in Schrecken versetzten, daß er stehen blieb und erklärte, unter keinen Umständen weiter gehen, sondern den Rückweg einschlagen zu wollen. Waren es einige Steine, die, vom Fuße des Führers gelockert, an uns vorüberflogen, war es die Furcht, auf dem Anstieg zum Joch noch weiteren Schwierigkeiten zu begegnen, oder die Gesammtwirkung der Ermüdung und der nächtlichen Einöde – genug, er erklärte, nicht weiter gehen zu können.

Das war unter den vorwaltenden Umständen der reine Unsinn. Da alle meine Vorstellungen nichts fruchteten, so stand ich eine Weile rathlos da, denn mir selbst fiel es nicht ein, den Rückweg einzuschlagen.

Nun kam mir ein Gedanke – der Himmel weiß, woher. Vielleicht flüsterten mir ihn die Unholde der Nacht zu. Die Ausführung desselben ist wohl einzig in den Jahrbüchern der Bergbesteigungen.

Ich trat zum Führer hin, der weiter oben stand, und wechselte mit ihm längere Zeit Worte, welche der Ingenieur nicht vernehmen konnte. Zuerst wollte jener durchaus nicht auf das eingehen, was ich ihm zumuthete. Endlich hatte ich aber seine Bedenken dennoch überwunden.

Da geschah das Unerhörte. Mit einem Mal stand der Führer an der Seite meines Genossen und brachte ihm unter gräulichen Flüchen, indem er ihn zugleich vorwärts schob, einen Hieb nach dem andern bei. Er glich in diesem Augenblicke einem Fuhrmann, welcher mit Gebrüll und Verwünschungen auf ein Pferd lospeitscht, das vor einem steigenden Hang stehen bleibt.

Es folgte, was ich erwartet hatte. Mein Genosse, dem über diesen rohen Angriff der Verstand stehen geblieben war, taumelte willenlos unter den Püffen des Bauernknechtes, ohne zu wissen, was mit ihm vorging, den Rest des Kamines hinan.

In wenigen Augenblicken hatten wir die Paßhöhe erreicht. Als wir den Athem wieder gewonnen hatten, nahm der Führer seinen Hut ab, fiel auf die Kniee nieder und bat meinen Genossen um Vergebung für das, was er ihm angethan hatte. Dieser aber hörte kaum auf das, was der Führer vorbrachte. Er blickte unverwandt in den Kamin hinab und sagte ein über das andere Mal: ‚Da bin ich herauf gekommen? Nicht um alle Millionen der Erde würde ich den Weg noch einmal zurücklegen.‘

Ich beschwichtigte ihn, so gut es ging, und suchte das Verfahren, das auf ihn angewendet worden war, thunlichst zu entschuldigen – eine nicht ganz leichte Aufgabe. Er hatte indessen den guten Geschmack, glatt über die Sache hinwegzugehen, und war offenbar selbst froh, daß er auf irgend eine Weise über das Joch hinüber befördert worden war.

Ich glaubte nun, daß wir das Schlimmste hinter uns hätten. Es dauerte aber nicht lange, bis ich meinen Irrthum erkannte. Der Gletscher auf dem Südhang war allerdings nicht so ausgedehnt, aber unter dem Einflusse der Sommerhitze in einem viel höheren Grade zerrissen und zerklüftet worden als die Eisfelder auf der Nordseite. Als ich den Führer über den einzuschlagenden Weg befragte, zeigte es sich, daß er dieses ,Kees‘ niemals betreten hatte. Sein Verstandeslicht half uns also da noch weniger als seine Laterne.

Wir geriethen alsbald in ein Labyrinth von Gletschertischen und Spalten, deren Wände, wenn sie vom Mondlicht getroffen wurden, in einem unheimlichen Grüngold schimmerten. Unvergeßlich bleibt mir jene Wanderung.

In der Erinnerung treten die lästigen und bösen Seiten eines Erlebnisses mehr zurück, es bleiben dafür die anregenden sogenannten romantischen, stärker haften. Ich will mich jetzt nicht mehr darüber besinnen, wie oft ich voll Besorgniß auf der nassen, dünnen, rutschenden Schuttschicht, die an den meisten Stellen das Eis bedeckte, stehen blieb, um vorzusehen, ob nicht ein Abgleiten in irgend eine Kluft zu befürchten wäre, oder um einen Ausweg aus dem Durcheinander von Spalten ausfindig zu machen.

Mein Genosse stürzte mehrmals, indem er sich an steileren Stellen der Eisfläche auf dem mürben Schutt nicht zu halten vermochte. Als er wehklagend sich wieder einmal von einem solchen Fall erhob, verließ mich die Selbstbeherrschung und Geduld, die ich mir bis dahin bewahrt hatte. Mein Ingrimm über die Unwissenheit, Unfähigkeit und den Leichtsinn des Führers machte sich in einer furchtbaren Schimpfrede, die ich über denselben ergoß, Luft.

Ich hatte Unrecht. Erstlich war es hierfür lange zu spät und dann hatte mein Wuthausbruch einen Erfolg, an den ich allerdings nicht gedacht hatte. Derselbe sollte sofort eintreten.

Kaum hatte der Widerhall von den Wänden meine mehr geschrieenen als gesprochenen Worte wiedergegeben, als ich dicht neben mir einen Aufschrei vernahm. Mein Genosse war in eine Kluft abgestürzt, die durch eine Schneebrücke zugedeckt war, welche kaum zwei oder drei Zoll im Durchmesser hatte. Ich war dem nämlichen Schicksal nur dadurch entgangen, daß ich, um meine Standrede zu halten, etwa eine Klafter von ihm entfernt stehen geblieben war.

Mein erster, instinktiver Schrei war nach dem Seil. Bis jetzt hatten wir dasselbe nicht benutzt, weil es auf dem sanften Gletscher der Nordseite unnöthig war, und diesseits hatte ich es abgelehnt, uns anbinden zu lassen, weil ich dem Führer mißtraute und beim lichten Mondschein hoffen durfte, meinen Genossen zwischen den, wie mir schien, allenthalben offenen Klüften, wenn er sich knapp bei mir hielt, leichter durchzubringen, als wenn wir Alle zusammengebunden gewesen wären. Hatte ich ihn doch fast immer, so unnöthig es schien, während dieses letzteren Theils unserer Wanderung knapp an der Hand gehalten.

Der Führer warf mir das Seil zu und ich beugte mich über den Rand der Kluft. Ein Mondstrahl fiel auf einen hervorragenden weißen Buckel, etwa sieben oder acht Meter unter der Oberfläche. Auf diesem saß rittlings mein Genosse. Er schrie mir herauf, daß er sich unverletzt fühle. Der Spalt hatte ein Aussehen, als ob eine teigige Masse aus einander gebrochen wäre. Fast allenthalben standen an den Wänden Hervorragungen einander gegenüber. Ich konnte also vorläufig hoffen, daß mein Genosse nicht so rasch in die Tiefe sinken würde.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 695. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_695.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)