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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

mehr sehen konnten, erzählte sie mir ihre Ankunft in Riga nach der ersten Reise ins Ausland. Es war das Einzige, was mich in dem Augenblick interessirte. Auf der See hatte sie immer einen Shawl bereit, um ihn mir über die Schultern zu werfen. Bemerkte sie aber eine Lorgnette, oder auch ein unbewaffnetes männliches Auge auf mich gerichtet, gleich nahm sie mich unter den Arm und sprach:

„Viens, filette! Il-y a des courants d’air par ici.“

(Als ob solche „Zugluft“ Einem schaden könnte!)

In Berlin brachte sie mich nach dem Bahnhof – sie reiste zwei Stunden später nach Paris und empfahl mich zwei alten Damen, die sich’s im Koupé eben bequem gemacht hatten. Dann küßte sie mich auf beide Backen (der Kuß stach ein Bischen!) und hielt mir eine kleine Rede.

„Springen Sie nur ja nicht aus dem Wagen, ehe der Zug wirklich still hält! Ich hoffe, wir sehen uns in der Heimath wieder … Beruhigen Sie sich, Lisa – Sie reisen ja in guter Gesellschaft zu lieben Verwandten!“

Bei dem Wort: Heimath, wurde mir nämlich auf einmal so weh – so weh ! Ich mußte mich zusammennehmen, nicht laut zu weinen. Es war nicht wegen Frau von Pestov; es war das letzte Stück Rußland, von dem ich mich trennte.

Ich steckte den Kopf zum Wagenfenster hinaus, damit man meine Thränen nicht bemerkte. Von der Gegend weiß ich nichts zu berichten. Ich sah nur unser liebes altes Haus in Fennern. Es war gerade die Zeit, wann Jürri anspannt. Da steht Papa gewöhnlich vor der Thür und unterhält sich mit den Pferden. Er behauptet, daß er ihnen gleich anmerke, wenn sie mit Jürri nicht zufrieden wären.

Manchmal denke ich, Papa interessirt sich mehr für Pferde als für junge Mädchen. Aber es ist eigentlich recht gut, da wird er nicht ungeduldig, wenn er auf Mama warten muß. Sie sieht noch so hübsch aus, wenn Röth sich viel Zeit zum Anziehen nimmt, es ist immer nur Röth’s Schuld, wenn sie spät herunter kommt. Julie wird nicht mitfahren, wenn die Sonne in Fennern so hell scheint wie hier. Sie wird am Hochzeitsgeschenk für Natalie malen. Natti aber ist zur Spazierfahrt immer bereit – da vergeht ihr die Zeit, bis der Brief von Dimitri kommt.

Ob Sultan mich wohl gesucht hat? Mein treuer, alter Sultan! Ach – mich findet jetzt Niemand in Fennern …

Warum bin ich eigentlich fortgegangen? Wenn ich Heimweh bekomme, werde ich Tante gar nicht aufheitern können, und dazu schickt man mich doch nach Dresden. Tante Therese ist einsam und traurig, weil Cäcilie sich verheirathet hat. Sie behauptet, da Mama drei Töchter hätte und sie ihre einzige eben fortgegeben, müsse Mama ihr eine von uns borgen, unter Geschwistern müsse man sich aushelfen.

Ob Mama auch traurig sein wird, wenn Natti heirathet? Wahrscheinlich nur ein Bischen beim Abschied, aber innerlich ganz froh. Wir sind ja auch drei! Und Mama sagt, wenn man so viele Mädchen hat und nicht viel Geld, da dankt man Gott, wenn eine versorgt ist. Dimitri ist, glaub’ ich, sogar eine gute Partie.

„Hinter einem Hauptmannsgerichtsassessor da steckt immer eine alte Familie und darum hat Jeder vor ihm Respekt,“ behauptete neulich Papa.

Wenn ich nur wüßte, ob Natalie sich auf ihre Hochzeit freut? Sie thut so versteckt. Neulich hat Dimitri sie geküßt. Ich stand an der Glasthür hinter dem Vorhang. Sie sah sich sehr erschrocken um, aber nur weil sie glaubte, Jemand hätte es bemerkt. Ich hatte angestoßen. Als sie mich nicht sah, ließ sie sich ganz ruhig weiter küssen.

Vielleicht ist es gar nicht so unangenehm von einem Mann geküßt zu werden, wie Fräulein Vertueux behauptet …

„Wollen Sie mir nicht ein wenig Platz machen, Fräulein, ich möchte meine Füße gern ausstrecken,“ rief da eine von den beiden alten Damen.

Ich bin gewiß über und über roth geworden. Wenn sie geahnt hätte, an was ich gerade dachte!

11. Mai. 
Gestern kam ich nicht weiter. Tante bemerkte Licht in meinem Zimmer, als sie vorüberging – dummes Schlüsselloch! Da klinkte sie auf und sah mich am Schreibtisch.

„Der Brief kommt morgen noch zurecht, mein liebes Kind,“ rief sie, „heut gehst Du gleich zu Bett. Von Rußland hergereist! Da mußt Du ja müde sein!“

Warum muß ich? Mich ärgert’s, wenn Jemand besser wissen will, wie’s in mir aussieht, als ich selbst. Ich war gar nicht müde. Aber ich fürchte mich noch ein Bischen vor Tante, und so machte ich schnell meine Mappe zu und verlöschte ein paar Minuten später das Licht. Natürlich dachte Tante, ich schreibe einen Brief. Woher sollte sie auch wissen, daß ich mein einziges Talent übte!

Jetzt fahre ich fort, wo ich gestern stehen blieb, heut hab’ ich mein Schlüsselloch verstopft.

Die alten Damen, mit denen ich reiste, waren Schwestern; Beide mehr noch zusammengeschrumpft als klein, und etwas altmodisch, aber mit so freundlichen Gesichtern, als habe ein Photograph ihnen eben zugerufen: bitte – lächeln!

Sobald ich nicht mehr zum Fenster hinaussah, fingen sie mit mir zu reden an. Die Sprache klang sehr weich und komisch, paßte aber zu ihren Gesichtern. Ich merkte bald, daß sie in Dresden zu Hause seien und herausbekommen wollten, wer die „lieben Verwandten“ wären, von denen Frau von Pestov gesprochen hatte.

Sie frugen immer abwechselnd. Die Eine – sie hatte ihre abgetragenen, sehr weiten dänischen Handschuhe ausgezogen, und ich bemerkte einen goldenen und einen silbernen Trauring – war lebhafter und immer um eine Frage vor der andern voraus.

„Das ist wohl Ihre erste Reise?“

„Nein. Ich war schon in Petersburg, mit Papa.“

„Petersburg? Dort muß es ja schrecklich zugehen …“

„Hatten Sie denn keine Angst?“

„Weßhalb?“

„Nun, vor den Nihilisten!“

„In die Luft gesprengt zu werden, wenn Sie in die Nähe von einem kaiserlichen Palast kamen?“

„Wir dachten gar nicht daran.“

„Also in Riga sind Sie zu Hause?“

„In Fennern, ein paar Meilen von Riga.“

„Fennern? … Julchen, den Namen muß ich schon gehört haben.“

„Er kommt mir auch recht bekannt vor.“

Ich schwieg.

„Wir haben in Dresden viele Russen …“

„Und wir kennen einige russische Familien; es sind charmante Menschen darunter, z. B. die Herrmanns …“

Ich schwieg weiter. Fragt nur – dachte ich – Ihr sollt es nicht herausbekommen.

„Wahrscheinlich reisen Sie zu Verwandten?“ fing die mit den Trauringen nach einer kleinen Weile wieder an. „Doch nicht zu den Wassiliev’s?“

„Meine Verwandten sind keine Russen.“

„So, so! Da hat sich Ihre Frau Mutter wahrscheinlich aus Deutschland nach Fenndorf …“

„Fennern.“

„… nach Fennern verheirathet?“

„Ja – meine Mutter ist eine Deutsche.“ (Sie kommen wahrhaftig näher und näher!)

„Es ist recht schlimm für ein so junges Mädchen, in einer stockfremden Stadt allein anzukommen – meinst Du nicht, Julchen?“

„Das Fräulein wird wahrscheinlich auf dem Bahnhof erwartet. Sie haben doch genau angegeben, mit welchem Zuge Sie reisen?“

„Ja – ich schrieb es.“

„Und wenn man Sie verfehlt, werden wir Sie beschützen.“

„Sehr gütig.“

„Sollten Ihre Verwandten in unserer Nähe wohnen, so könnten wir ja zusammen einen Wagen nehmen, falls Sie Niemand auf dem Perron fänden?“

Was blieb mir übrig? „Das Haus meines Onkels liegt an der Bautzener Straße,“ sagte ich.

„Ach!“ rief da plötzlich die Eine, wie von einer Erleuchtung betroffen – „Professor Borneth’s erwarten ja ihre Nichte aus Lievland!“

Ich war wüthend! Da hatten sie es wirklich heraus.

„Ja – ich besuche die Borneth’s.“

„Das hätten wir uns eigentlich denken können. Fällt Dir nicht eine gewisse Familienähnlichkeit auf, Julchen?“

„Ich war davon gleich frappirt, als das Fräulein in den Wagen stieg.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 650. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_650.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2023)