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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

um die arme Emmi und ihren Schmerz unbemerkt beobachten zu können. Marie Antoinette, die sich lebhaft für das junge Mädchen interessirte, fand nichts Bedenkliches in diesem Vorschlag ihres Schwagers. Die musikalischen Produktionen wurden unterbrochen und die Königin mit ihrer ganzen Gesellschaft machte sich, von dem Grafen Artois geführt, von einigen Lakaien mit Windlichtern gefolgt, auf den Weg nach der Meierei. Unbemerkt langten sie dort an und sahen allerdings die arme Emmi – und bei ihr – den Grafen d'Adhémar. Die Königin, im ersten Augenblick sprachlos vor Staunen und Entrüstung, blieb wie gebannt unter der offenen Thür des Stalles stehen und mußte der Erzählang Emmi’s horchen, wie auch der ganze kleine Hofstaat, der sich neugierig leise – leise näher drängte, kein Wort davon verlor. Da wurde es Marie Antoinette weich um das Herz; sie sah, daß das junge Mädchen keine Schuld traf und den Grafen d'Adhémar wohl auch nicht, ihr Zürnen wandelte sich rasch in innige Theilnahme mit dem armen Kinde, dessen Herzensweh ihren Augen Thränen entlockte. Da war die Erzählung Emmi’s zu Ende, die Königin trat vor und Graf d'Adhémar schaute auf.

Der Schreck, den er empfand, war ein ganz gewaltiger, doch rasch faßte sich der geistvolle Höfling, dem jetzt die theatralische Routine zu Statten kam. Mit einem Blick überschaute er die ganze Situation, und die theilnahmvolle Miene, die thränennassen Augen der Königin sagten ihm sofort, daß er sich mit Vortheil aus der bedenklichen Affaire ziehen könne. – Noch bevor Marie Antoinette ein Wort geredet, hatte Graf d'Adhémar sich schon erhoben, Emmi bei der Hand genommen und der Königin entgegen geführt. Ein kräftiger, vielsagender Druck, und das junge Mädchen sank vor ihrer hohen Beschützerin nieder, umfaßte weinend deren Kniee, und während sie schamvoll verlegen und bittend zu ihr aufschaute, sprach Graf d'Adhémar mit der vollendeten Kunst eines Schauspielers, der die Herzen zu ergreifen versteht:

„Der Kummer Emmi’s rührte mich, ich suchte ihr Vertrauen zu gewinnen, um ihr helfen zu können, und wie an dem Herzen eines Vaters hat das gute Kind sich ausgeweint, mir nicht allein ihre Liebe zu ihrem armen Jakob gestanden, sondern auch daß sie sterben würde, müßte sie länger fern von ihm sein. Ich hoffe, daß unsere angebetete gütige Königin,“ also fuhr er mit einem schelmischen Seitenblick auf seinen geschlagenen jüngeren Nebenbuhler fort, „Mitleid mit dem Heim- und Herzensweh ihrer getreuen Dienerin haben und der guten Emmi ihren ‚pauvre Jacques‘ zurückgeben wird.“

„Ich danke Ihnen, mein lieber Graf,“ entgegnete Marie Antoinette, mit huldvollem Lächeln Graf d'Adhémar zunickend, und das Mädchen vom Boden empor ziehend, „daß wir durch Ihre freundliche und geschickte Fürsorge endlich die wirkliche Ursache des Kummers unserer armen Emmi kennen gelernt haben, und Sie wie das gute Kind dürfen versichert sein, daß ich Alles aufbieten werde, die nun glücklich entdeckte Herzenswunde zu heilen.“ Sodann sich zu dem Mädchen wendend, fuhr sie fort: „Tröste Dich, Emmi, und vertraue den Worten Deiner Herrin! Sei wieder fröhlich und singe wie früher. Ist Dein ‚armer Jakob‘ Dir ebenso zugethan geblieben, wie Du ihm, dann soll der Lohn Eurer treuen Liebe nicht ausbleiben. Deine Königin verspricht es Dir.“

Wiederum wollte Emmi, diesmal in dankbarer Rührung, das Herz voll hoffender Freude, der gütigen Königin zu Füßen fallen, doch diese entzog sich solchem Dank, indem sie mit einem freundlichen Lächeln von dem Mädchen Abschied nahm und, von ihrer Umgebung gefolgt, den Rückweg nach dem Schlößchen antrat.

„Diese glückliche Wendung ihres Schicksals hat meine kleine Schutzbefohlene im Grunde wohl nur Ihnen, Monseigneur, zu verdanken,“ sagte Graf d'Adhémar im Dahinschreiten zum Grafen Artois, indem er sich mit einer leichten Verbeugung und mit einem schelmischen Lächeln dem jungen Prinzen näherte.

„Dafür wird Ihnen die gewiß noch weit angenehmere Aufgabe werden, jenen ‚Pauvre Jacques‘ in die Arme Ihrer Schutzbefohlenen legen und das junge Paar in das Brautgemach – ihres Stalles geteiten zu dürfen. Viel Vergnügen, Herr Graf!“ entgegnete Graf Artois mit beißendem Spott in Ton und Blick, außer Stande, seinen Aerger über die verfehlte Rache zu verbergen. Dann eilte er rasch weiter, um in die Nähe der Königin zu gelangen. Marie Antoinette kehrte nicht nach dem Musikpavillon zurück; es war spät geworden und die Stunde des Soupers gekommen. So zog sie denn mit ihrer kleinen Gesellschaft nach dem Schlößchen, wo die Abendtafel bereits ihrer Gäste harrte. Das Souper verlief in belebter Stimmung; die kleine Emmi, ihr armer Jakob und das Herzensweh der hübschen Schweizerin lieferten den Stoff der Gespräche. „Pauvre Jacques“ klang es allwärts mit gefühlvollstem Ausdruck, doch auch hie und da mit einer leichten Ironie. Nur eine der Damen machte eine Ausnahme, sie allein blieb bei dieser allgemeinen lebendigen Unterhaltung stumm oder doch auffallend wortkarg und schien mit ganz anderen Gedanken beschäftigt zu sein. Es war die Marquise von Travanet. Als die Königin dies endlich bemerkte, wendete sie sich erstaunt an die sonst so lebhafte und zugleich sehr gefühlvolle Dame mit der Frage, ob denn das Schicksal des armen Kindes der Schweizerberge nicht auch ihr Herz gerührt habe. Die Marquise lächelte und erwiederte, es sei dies in einem solchen Grade der Fall gewesen, daß sie bereits das Herzweh Emmi’s, sogar deren eigene Worte in Verse gebracht, auch schon die passende Melodie dafür gefunden habe. Wenn Ihre Majestät es gestatteten, meinte sie schließlich, so würde sie sich glücklich schätzen, dies soeben entstandene Liedchen vom „Pauvre Jacques“ vortragen zu dürfen.

Marie Antoinette war sehr erfreut über diese Mittheilung der poetisch und musikalisch begabten Marquise und bat sogleich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 640. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_640.jpg&oldid=- (Version vom 26.6.2023)