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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Unbehaglich war ihm der Gedanke, daß er die Dirne wahrscheinlich drunten im Flur oder im Hofe treffen würde. Ganz erspart konnte ihm diese Begegnung freilich nicht bleiben – aber wenn es schon sein mußte, dann wenigstens später, nur jetzt nicht, wo er es so nöthig und eilig hatte, hinaus ins Binderholz zu kommen. Da athmete er nun erleichtert auf, als er den Hof erreichte, ohne von Kuni etwas gehört oder gesehen zu haben. Wo sie wohl stecken mochte? Aber was kümmerte das ihn? Er zuckte die Schultern, pflückte, als er am Garten vorüberkam, eine feuerrothe Nelke, steckte sie hinters Ohr und wanderte auf der thaufeuchten Straße mit rüstigen Schritten in den herrlichen Morgen hinein.

Ueber dem weiten Thale lag noch das zarte, glanzlose Frühlicht. Die Nebel der Nacht waren schon in Luft zerronnen; nur über den feuchteren Wiesen schwebten noch einzelne graue Streifen; aber auch diese zerschmolzen mehr und mehr, und immer kleiner werdend wirbelten sie sich langsam den steilen Bergwald empor, über welchem auf hochgebauten kahlen Felsen schon der röthliche Wiederschein der steigenden Sonne glühte. Tiefer und tiefer senkte sich dieser helle Glanz dem Thal entgegen, und als Karli den Wald betrat, blitzten schon die ersten goldenen Strahlen durch die Wipfel der leise rauschenden Bäume.

Lautlos zogen seine Schritte über den moosigen Weg; ab und zu nur knackte unter seinen Füßen ein dürres Reis. Winzige Vögel flatterten vor ihm auf und rings um ihn war ein hundertstimmiges Pispern und Zwitschern. Im tieferen Walde gurrte eine wilde Taube und vom nahen Berghang hallten die Schläge einer Axt. Rascher und rascher wurde Karli’s Gang. Jetzt traten die Bäume mehr aus einander, und durch die Lücken ihrer braunen Stämme gewahrte er den hohen, dichtgefügten Zaun, der das Besitzthum des Bygotter’s in weitem Bogen umzog. Unschlüssig blieb er eine Weile stehen, dann schritt er geraden Weges auf die Pforte zu. Sie war von innen fest verrammelt. Mit beiden Händen rüttelte er an ihr, aber sie rührte sich nicht. Lauschend verharrte er, doch war aus Haus und Hofraum nicht der geringste Laut zu vernehmen. „Schlafen werden s’ ja dengerst nimmer,“ murmelte er vor sich hin, besann sich ein paar Sekunden und schlich dann am Zaun entlang einer Stelle zu, wo er eine Lücke wußte, vor welcher er an den vergangenen Abenden manche Stunde mit nutzlosem Spähen verbracht hatte. Da fand er nun wohl die Stelle, aber nicht mehr die Lücke. Sie war mit frischem Astwerk dicht übernetzt. „Jetzt so ’was is doch a Bißl gar zu arg,“ meinte er und schaute ärgerlich um sich. Als er dabei nahe vor sich eine fast bis zur Erde belaubte Buche stehen sah, kam ihm ein rettender Gedanke. Doch schien er ihn im Erfassen schon wieder zu verwerfen, denn seine Augen glitten mit besorgten Blicken über die peinlich saubere Montur. Schließlich siegte aber dennoch die Sehnsucht über die „Propridöt“, und mit raschen, geschickten Griffen zog er sich an der Buche über Aeste und Aeste bis zur Krone empor, deren Laubwerk ihn verbarg und ihm dennoch einen genügenden Ausblick gewährte. Am Hause selbst, dessen Thür geschlossen war, vermochte er nicht die geringste auffällige Beobachtung zu machen. Inmitten der Wiese aber bemerkte er gleich jenes seltsame Etwas, das er wohl auch an den vergangenen Abenden gewahrt, in der Dämmerung aber niemals genauer hatte unterscheiden können. Es war dort ein zimmergroßer, viereckiger Raum vom Grase befreit, mit feinem Sande glatt überdeckt und von weißen, eng neben einander in die Erde gesteckten Stäben umgrenzt, die gegen das Haus zu einen schmalen Durchgang ließen. In diesem Raum erhob sich ein tischartiger Aufbau aus sorgsam an einander gefügten Steinbrocken, über denen eine rohbehauene Felsplatte ruhte, die in der Mitte wie von Ruß geschwärzt erschien.

Während Karli noch mit großen Augen das seltsame Ding bestaunte und erfolglos hin und her sann, wozu es wohl dienen könnte, öffnete sich an der Hütte die Thür, und der Bygotter trat auf die Schwelle.

„Ah, Narr – was is denn jetzt das für an Aufzug!“ murmelte Karli, als er des Alten ansichtig wurde.

Der trat mit zögernden Schritten ins Freie, während seine unheimlichen Augen mit raschen Blicken den Hofraum überflogen. Leicht rührte sich im Winde sein mächtiger silbergrauer Bart, der sich in der Farbe nur wenig von dem absonderlichen Gewande abhob, welches der Bygotter trug. Von den eckigen Schultern hing ihm, aus gebleichter Leinwand gefertigt, ein Etwas bis auf die Kniee nieder, das in der Form halb einem Talar und halb einem Fuhrmannshemde glich; die Aermel reichten den dunkelbraunen fleischlosen Armen kaum bis an die Ellbogen. Um die Beine schlotterte ihm eine weite Hose von gleichem Stoffe. Die Füße waren nackt und statt eines Hutes trug er eine weiße Binde in dicker Wulst um das Haupt gewunden.

Wäre Karli ein wenig bibelkundiger gewesen, als er war, ihm hätte beim Anblick des Alten unwillkürlich jene Stelle aus dem Buche des Propheten Hesekiel einfallen müssen, an der es von den Leviten, den Söhnen Zadok’s, heißt: „Sie sollen zu meinem Heiligthume kommen und sollen meinem Tische nahen, mir zu dienen und meinen Dienst zu besorgen. Und wenn sie eingehen in die Thore des inneren Vorhofs, sollen sie leinene Kleider anziehen, und nicht soll Wolle an sie kommen, während sie mir dienen. Leinene Kopfbinden sollen auf ihrem Haupte sein und leinene Beinkleider an ihren Lenden.“

So wunderlich nun auch der Bygotter anzusehen war, so verlor Karli doch jählings alles Interesse an ihm, als er Sanni hinter dem Alten aus der Thür treten sah. Heftig fing ihm das Herz zu pochen an, und beinahe hätte er auf seinem luftigen Sitze den Halt verloren, so hastig reckte er sich empor, um im Laube eine Lücke zu finden, die ihm einen ungeschmälerten Anblick der Geliebten gönnte. Sie schien ihm in den Tagen, in denen er sie nicht mehr gesehen, größer und voller geworden. Trotz des ärmlichen Alltagskleides, welches sie trug, meinte er sich etwas Schöneres nicht denken zu können, als das Mädchen dort drüben. Da schnitt es ihm ganz in die Seele, als es ihm vorkam, daß ihr Gesichtchen gar blaß und traurig wäre. Und was hielt sie denn nur auf dem Arme? Das sah sich an wie eine hölzerne Schüssel. Und in der anderen Hand? Das war ein Bündel von dünnen Holzspänen und kleinen Scheiten. Und da folgte sie nun mit gesenktem Köpfchen dem Vater, der sich mit stelzenden Schritten jenem seltsamen Ding in der Wiese näherte. Als er vor den weißen Stäben hielt, nahm er Schüssel und Späne aus Sanni’s Händen und gab ihr in hartem Tone irgend eine Weisung. Mit verschüchterten Augen schaute sie zu ihm auf, und als er ihr den Rücken wandte, ließ sie sich außerhalb des umhegten Raumes zögernd auf die beiden Kniee nieder. Der Bygotter aber trat in den sandbestreuten Innenraum, schichtete über der Felsplatte aus den Spänen und Scheiten einen kleinen Stoß, steckte ihn auf eine seltsame Weise in Brand, und als die hellen Flammen in die Höhe züngelten, goß er unter murmelnden Worten den Inhalt der hölzernen Schüssel darüber.

Karli konnte nicht erkennen, was es war; doch meinte er Festes und Flüssiges zu unterscheiden – und als ihm gerade der leichte Wind den Rauch entgegentrieb, der in dicken Wolken aus dem gedämpften Feuer stieg, glaubte er den Geruch von verbranntem Fett zu spüren.

„Ja heilig – mir scheint ja gar, der thut an Opfer halten – ganz nach’m alten Testament!“ staunte der Bursche und schaute mit weit offenen Augen zu, wie der Bygotter sich vor dem Steinbau auf die Kniee warf, sich niederneigte und die Stirn auf die Erde drückte. Als aber auch Sanni mit sichtlichem Widerstreben dem Beispiel des Vaters folgte, ballte Karli die Faust und murrte: Meinetwegen könnt’ er treiben, was er mag – wenn er nur g’rad das arme liebe Deandl aus’m Spiel lassen thät’!“

Da richtete der Alte sich wieder in die Höhe, und mit starren Augen aufwärts blickend zum sonnigleuchtenden Himmel, breitete er weit die Arme.

„Na, na,“ flüsterte es droben in der Buchenkrone, „wer hat denn schon amal so was g’sehen! Der ganze Abraham – g’rad der Hammel geht ihm noch ab zu seiner –“

Mitten im Worte unterbrach sich Karli. Es war ihm gewesen, als hätte er die rauhe, rollende Stimme des Bygotter’s vernommen. Und da verstand er nun deutlich, wie der Alte mit leidenschaftlichen, fast zornigen Lauten emporsprach in die Lüfte: „Im wehenden Rauche, Herr, steigt mein Gebet zu Dir hinauf. Laß’ mich Deine Stimme wieder hören, daß ich den Weg finde, welcher der Weg Deines Willens ist. Ich bin Dein Knecht. Du willst nicht, daß ich mich umsonst gemühet habe und meine Kraft vergeudet um nichts. Sende mir den Schall Deines Mundes, auf daß ich ausgehe, die Finsterniß zu zerstreuen. Mache meine Zunge gleich scharfem Schwerte, und mit dem Schatten Deiner Hand bedecke mich!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 631. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_631.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2020)