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verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

morale, lautet der technische Ausdruck) einer genauen Prüfung unterliegen.

Neben dieser Art von Banditentreue, die man auch anderwärts bei halbverwilderten Menschen findet, sobald sie nur durch eine strenge Disciplin und den Glauben an ihre gute Sache moralisch gehalten werden, finden sich noch andere lobenswerthe Züge, die im Camorristen eben den Sohn der „dolce Napoli“ kennzeichnen. So die Fürsorge für die Familien gefangener oder getödteter Genossen, die Rücksicht auf die alten im Dienst ergrauten Häupter, auch wenn sie längst in Ruhestand getreten sind – ein solcher Veteran der Camorra heißt in der Sprache der Sekte ein camorrista proprietario und genießt ein patriarchalisches Ansehen – ferner die unauslöschliche Erkenntlichkeit für erwiesene Wohlthaten, wenn sie wirklicher Menschenliebe und nicht der Furcht entsprangen.

Unser trefflicher Gewährsmann Peter, der seit lange das Amt eines Pastors der protestantischen Gemeinde in Neapel bekleidet, erzählt von einem Freunde, der wegen seiner Wohlthätigkeit allerwärts bekannt war und unter Anderm auch die Mutter eines gefangenen Camorristen, ohne den Grund ihrer Noth zu kennen, unterstützt hatte. Die Camorra blieb ihm dafür dankbar und bewies es zu öfteren Malen. Als er starb, folgten viele Camorristen seiner Bahre und kehrten Tags darauf noch einmal an das Grab zurück, das vom Volke schon ganz mit Blumen überschüttet war. Ihre Dankbarkeit für den Todten übertrugen sie auf den überlebenden Freund, und Herr Peter hat mehrfach Gelegenheit gehabt, der treulichen ihm von Camorristen erwiesenen Dienste rühmend zu gedenken.

Diese Gesellschaft, so stark nach innen und außen, mit hundertjährigen Traditionen und vererbtem Recht, getragen von unten und beschirmt von oben, mit der Polizei auf dem Fuße gegenseitiger Toleranz, übte natürlich auf das furchtsame und jedem Eindruck zugängliche neapolitanische Volk einen wunderbaren Bann aus; ihr anzugehören mußte Jeder wünschen, der lieber bei den Unterdrückern als bei den Unterdrückten stand. Und so wiederholte sich von Generation zu Generation der traurige Fall, daß alle mannhafteren Elemente der niederen Bevölkerung einer geheimen Verbrüderung zuströmten, deren Endziel das Verbrechen ist, und daß es für den jungen Neapolitaner, wenn er irgend hervorragende persönliche Eigenschaften besaß, keinen höheren Ehrgeiz gab, als Camorrist zu werden.

Doch ward der Eintritt Keinem leicht gemacht. Bei der Camorra dient man von der Pike auf; der Aspirant muß schon früh Beweise von körperlicher Kraft und Gewandtheit, von Muth, Standhaftigkeit und Kaltblütigkeit gegeben haben.

Im persönlichen Dienst eines „Picciotto“ – die Erklärung dieses Grades wird später folgen – macht er als „giovane onorato“ oder, wie ihn Andere mit mehr Berechtigung nennen, als „garzone di mala vita“ seine erste oft viele Jahre dauernde Lehrlingszeit durch. Er ist gewissermaßen der Laienbruder dieses Ordens. Er führt blindlings jeden ihm gewordenen Befehl aus, ist stets bereit, vor der Justiz die Missethaten seiner Kameraden oder Vorgesetzten auf die eigenen Schultern zu nehmen; er trägt geduldig die härtesten Entbehrungen und Mißhandlungen; an der Beute, die er selber macht, hat er keinen Antheil, und wenn ihm der „Picciotto“, in dessen Diensten er steht, nur ein Stück Brot reicht, so muß er es als eine Gnade erkennen. Ein im Auftrag des Vorgesetzten verübter Todtschlag oder ein glücklich ausgeführter „sfregio“[1] beendigt die Prüfungszeit. In Ermangelung solcher Gelegenheiten hatte der Kandidat ein meist ungefährliches Duell mit einem durch das Los gezogenen „Picciotto“ zu bestehen, worauf er selbst als Picciotto oder besser gesagt als „Picciotto di sgarro“[2] in den aktiven Dienst der Camorra trat.

In früheren Jahren, als die Bedingungen noch härter waren, soll die Aufnahmeprüfung darin bestanden haben, daß man eine Kupfermünze auf den Boden legte und daß alle Versammelten gleichzeitig mit ihren langen Messern danach stachen; der Kandidat mußte mit bloßer Hand das Geldstück zwischen den Messern hervorholen. In unserer Zeit scheint ein einfacher Aderlaß, durch irgend einen Barbier der Camorra in Anwesenheit von zwei Camorristen und drei Picciotti an dem Kandidaten vollzogen, die einzige Ceremonie zu sein; angesichts des rinnenden Blutes hat der Neuling Treue und Gehorsam zu schwören.

Nun beginnt für ihn ein neues, bei Weitem gefährlicheres Noviziat. Er tritt in den unentgeltlichen Dienst eines Camorristen, der ihm nach Gutdünken jede Herkulesarbeit aufladen kann und ihm keinen Antheil am Erwerb schuldig ist. Was er selber „verdient“, liefert er pflichtgetreu in die Hände seines Vorgesetzten aus.

Auch diese Knechtschaft läßt er willig über sich ergehen. Eine glänzende That, eine Probe der Treue und Hingebung an die Gesellschaft sichert endlich seine Beförderung. Diese Probe bestand gewöhnlich darin, daß der „Picciotto“, sobald sein Vorgesetzter eine Missethat begangen hatte, alle Indicien der Thäterschaft auf sich selber lenkte und vor Gericht die Schuld des Camorristen übernahm. Wohl konnte er sich dadurch zehn, ja zwanzig Jahre Zwangsarbeit zuziehen, aber er bekränzte sich in den Augen seiner Genossen mit unvergänglichem Ruhm und stieg selber zum Camorristen auf. Aus Zeiten verschärfter Verfolgung der Camorra wird sogar der Fall erzählt, daß ein „Picciotto“, ohne wankend zu werden, die Todesstrafe für seinen Camorristen erlitt.

Andere avanciren, indem sie einen gefährlichen Gegner der Camorra aus dem Weg räumen. So jener Raffaelle Esposito, von dem John Peter in seinem Aufsatz „La Camorra en 1881“ erzählt. Derselbe erschoß einen allgemein verhaßten Polizei-Agenten, welcher der Camorra grimmigen, erbarmungslosen Krieg erklärt hatte. Die Nachbarschaft huldigte ihm wie einem Befreier; man gab ihm ein großes Bankett und er zog wie ein Triumphator unter einem Regen von Blumen und Bonbons durch die Straßen. Als er verhaftet wurde, eröffnete das Volk eine Subskription, um ihm einen Vertheidiger zu bezahlen, und die Regierung war gezwungen, seinen Proceß in Viterbo führen zu lassen, da die Richter in Neapel ihres Lebens nicht sicher gewesen wären. Er wanderte auf dreizehn Jahre in das Zuchthaus, aber das große Ziel seines Lebens war erreicht: er war noch am Tage der That vom „Picciotto“ zum Camorristen avancirt. Welchen Werth dieser Titel in der Gefangenschaft hat, werden wir später sehen.

Nicht immer findet sich jedoch Anlaß zur Großthat oder zum Martyrium; in diesem Fall bietet die Camorra, der daran gelegen ist von Zeit zu Zeit junge Kräfte aufzunehmen, einem Aspiranten „von guter Moral“ eine andere Gelegenheit zur Auszeichnung. Der „Picciotto“ darf einen Camorristen, welcher ihm übrigens auch durch das Los bestimmt werden kann, zum Zweikampf mit dem Messer herausfordern. Dieses Duell ist viel ernstlicher als das, welches der „giovane onorato“ zu bestehen hatte; es findet in geschlossenem Raume statt und geht häufig auf Tod und Leben. Der Verwundete wird von seinen Kameraden aus der Kammer getragen und einfach auf die Straße gelegt, wo ihn alsdann Vorübergehende, die häufig von der Camorra schon benachrichtigt sind, aufheben[WS 1] und ins Spital schaffen. Bleibt der „Picciotto“ Sieger, so erfolgt die Aufnahme unter allerlei feierlichem Hokuspokus, der die völlige Hingabe des Adepten an die Camorra symbolisch darstellt. Schließlich schwört der Neuling über einem Krucifix oder über zwei gekreuzten Messern (was dieselbe Bedeutung hat) der Gesellschaft Treue auf Leben und Tod; er wird der Reihe nach von seinen neuen Kameraden umarmt, und das Haupt der Versammlung stellt ihn allen Anwesenden vor mit den Worten: „Ecco l’uomo!“ (Seht den Mann!) Von dieser Stunde an nimmt er an allen Rechten, Ehren und Einnahmen der Genossenschaft Theil.

In früheren Zeiten hatte die Camorra in jedem Stadtviertel ein kleines Centrum, eine sogenannte „paranza“. Heute ist die Zahl derselben bedeutend zusammengeschmolzen, aber nach wie vor wählt jede dieser kleineren Korporationen aus ihrer Mitte den Tüchtigsten und Verwegensten zum Oberhaupt unter dem Titel „capoparanza“. Dieser Chef ist die höchste bekannte Behörde der Camorra; höher hinauf dringt kein Auge, und es ist schon viel darüber gestritten worden, ob die Camorra in den oberen und obersten Schichten der Bevölkerung wirkliche Mitglieder oder bloße


  1. „Sfregio“, eine dem Gegner beigebrachte entstellende Gesichtswunde, wobei das Messer kreuzweise durch das Gesicht des Opfers gezogen wird. Dieser sfregio war stets ein sehr verbreitetes Abzeichen, das die Camorra den Gesichtern ihrer Mitbürger, besonders den weiblichen, aufzudrücken liebte; M. Monnier, der eifrige Forscher des neapolitanischen Volkslebens, behauptete, in den sechziger Jahren sei derselbe in den niederen Klassen von Neapel noch so häufig gewesen wie der „Schmiß“ beim deutschen Studenten.
  2. „Picciotto“ heißt so viel wie „Junge“; die Bedeutung des Wortes „sgarro“ ist nicht zu ermitteln.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ausheben
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1887, Seite 622. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_622.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2023)