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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

man ohne Weiteres auf die Schuttflächen hinausgehen, welche nunmehr Alles bedeckten, was früher Platz, Straße, Garten gewesen war.

Der mehrfach erwähnte Wildbach hatte aber sein Bett verlassen und seine Wasser über die Felsenmassen hinweg, die von ihm mitgebracht worden waren, strahlenförmig zwischen, durch und über die Häuser hinweg ergossen.

Man muß sich das nicht so vorstellen, als ob das Unheil, welches da hereingebracht wird, etwa in der Form eines Theaterkoups aufträte, so wie ein Erdbeben oder ein Schiffsuntergang in einer Spektakeloper. Letztere Dinge kommen, sind aber rasch vorüber.

Hier dagegen verhält sich die Sache ganz anders. Die Wasser fließen fort und fort über den Schutt herein. Und wenn sich auch die Wasser nach und nach verlieren, so bleibt doch der Schutt da. Es giebt kein Brot, kein Fleisch, keinen Wein, denn die Keller sind Behälter von Schlamm und Felsblöcken. Es giebt keine Mühle, keine Backstube. Herbeischaffen ist unmöglich, denn es giebt auch keinen Weg, keinen Steg, keine Eisenbahn, keine Landstraße, keinen Telegraphen. Zudem befinden sich andere Orte in ähnlicher Lage. Nichts desto weniger aber stehe ich nicht an zu behaupten, daß die Leute im Hochgebirge bei Wasserunglück immer noch nicht so schlecht dran sind, wie in Tiefebenen, wie etwa in Holland oder in den Po-Niederungen. Denn das Leben wenigstens scheint im Gebirge nicht so gefährdet. Die Fluth mag steigen wie sie will, irgendwo giebt es an den Berghalden hin doch eine Zuflucht, während der arme Mensch auf flachem Boden hilflos weggeschwemmt und ersäuft wird.

Wenn einem Gebirgsorte Derartiges zustößt, so ist es ein ganz besonderes Glück für ihn, wenn er an einer Eisenbahn liegt. Mehr als Staat und Provinz, schneller als alle Wohlthätigkeitsvereine muß die Eisenbahn Hilfe bringen, weil die Wiederherstellung dessen, was zu Grunde ging, für sie selbst zur Lebensfrage wird. Ich will nicht davon erzählen, daß sechs Wochen später sich das Unglück wiederholte, sondern zunächst auf die Art und Weise der Hilfe hindeuten.

Zu allernächst mußte der Schotter aus der Ortschaft und den Häusern entfernt werden. Die Eisenbahn, welche Tausende von Arbeitern hatte aufnehmen müssen, um ihre Linien, die von Kärnten an durch das ganze Pusterthal und das Etschland hinab an zahllosen Stellen zerstört waren, wieder herzustellen, schickte unentgeltlich hundert Arbeiter mit allen nothwendigen Werkzeugen nach Welsberg, welche sich alsbald an die Wegräumung der Geröllberge machten. Um dies zu ermöglichen, wurde eine Rollbahn erbaut. Welche Massen hier zu bewältigen waren, ersieht man aus der Angabe, daß zwischen den Häusern allein ungefähr zwölftausend Kubikmeter Geröll ausgehoben und fortgeschafft wurden. Solche Massen erscheinen begreiflich, wenn man beispielsweise erfahren hat, daß der Schmied vom Rande seines Schornsteins hinabschauen mußte, wenn er seine Feueresse sehen wollte.

Es sei hier der Untergang einer anderen Schmiede unweit Welsberg eingeschaltet. Ein Augenzeuge erzählte mir, wie ihm aus ansehnlicher Entfernung durch die offene Thür hindurch der Hintergrund der weißroth auflodernden Flamme, welche der durch ein Wasserrad in Bewegung gesetzte Blasbalg anfachte, die Umrisse des Schmiedes gezeigt habe. Er nahm wahr, wie der kräftige Mann eben den Hammer erhob, um auf ein vor ihm liegendes Stück Glüheisen zu schlagen. Urplötzlich erfaßte den Beschauer, welcher fuhr, ein Schrecken, daß er schier von seinem Karren gefallen wäre, denn jetzt sah er gar nichts mehr. Der Bach war von hinten in die Schmiede gebrochen und hatte Alles fortgerissen. Der erhobene Hammer fiel nicht mehr auf die Eisenstange herab. Schmied und Amboß, Zaun und Haus waren und blieben verschwunden. –

Nächst der Wegräumung des Schotters galt als eine nicht minder wichtige Arbeit die Sicherung des Ortes gegen den Gsieser Bach und die Anlegung eines neuen Bettes für den Wildling. Es wurde also zunächst eine ungeheure Mauer aufgeführt und aus gemauerten Steinen eine breite, ziemlich jäh geneigte Rinne hergestellt, in welcher der Wildbach rasch, eine Strecke weit fast parallel mit ihr, zur Rienz hinabfließen muß. Der Boden dieses Bettes ist mit ungeheuren Steinblöcken gepflastert, deren flache Seiten nach oben schauen. Eine solche Pflasterung war nothwendig; denn ohne sie würde das Wasser sich bald weiter in den Grund eingewühlt, sein Bett vertieft haben. Dann hätten die geneigten, aus gemauerten Steinen bestehenden Böschungen sich gesenkt und die Gefahr eines Durchbruches herbeigeführt. Das cyklopische Pflaster verhindert eine weitere Sohlenvertiefung des Wildbaches. Es ist ein gewaltiges Werk, welchem man es wohl ansieht, daß sich Welsberg sicher fühlen kann in seinem Schutze.

Wenn man in den Jahren der Verheerung durch Welsberg ging, sah man in manchem Hause, von welchem eine ganze Mauerseite weggerissen war, im ersten Stockwerk noch den Hausrath in den Zimmern stehen und die Bilder an den Wänden hängen. Auf den Tischen und Bänken aber, wie auf dem Boden lagen Felsblöcke, darunter manche viele Centner schwer. Hier und dort war noch ein Dachstuhl vorhanden, der mit seinem festvernieteten Gefüge dem Anprall der Wellen widerstanden hatte, während das zu ihm gehörige Mauerwerk verschwunden war. Konnte man doch Aehnliches auch bei der Eisenbahn wahrnehmen, bei welcher man an vielen Stellen von Dämmen und Unterbau keine Spur mehr erblickte, während die Schwellen, fest mit den Schienen zusammenhängend, in einem weiten, nach abwärts gerichteten Bogen in der Luft hingen, so daß die Eisenbahn einer jener Taubrücken glich, auf welchen die Indianer Südamerikas über die Abgründe der Kordilleren oder die Hindns über die Gebirgsschluchten der Ganga setzen.

Die Fortschaffung des Schotters hatte zur Folge, daß die Straßen wieder so sind wie früher, daß die Wiesen und Gärten wieder grünen und blühen. Die Ausbesserung und der Wiederaufbau der Häuser aber machte aus Welsberg einen viel schöneren Ort, obwohl er schon früher zu den behäbigsten des Pusterthales gehört hatte. Inschriften schmücken die wieder erstandenen Häuser; sie weisen auf die Katastrophe und den Wiederaufbau des Ortes hin. Wir lesen beispielsweise:

„Der Wildbach bahnte den Weg sich durch mich.
Gar Manches fiel in Trümmer,
Doch hoffnungsfreudig erhebe ich wieder mein Haupt.“

Nicht nur die Gebäude stehen schöner da als früher, sondern auch der freie Grund und Boden hat gewonnen. Wo früher eine wüste Strecke sich ausdehnte und wilde Wasser rannen, dort grünen jetzt die Prenninger-Anlagen, nach jenem Meister so genannt, welcher sich nicht nur um die Wiedererstehung Welsbergs, sondern auch um die anderer Orte, insbesondere aber um die Herstellung der Eisenbahn, die höchsten Verdienste erworben hat. Wo ungeregelt einst die Rienz floß, dort erheben sich jetzt Bäume, und die gewaltigen Dolomite spiegeln sich im stillen Becken eines Springbrunnens.

Während amerikanische Hilfsbahnen den zerstörten Schienenweg herstellen halfen, während die Rollbahn, auf die Höhe der Dachstühle hingelegt, den Schotter aus dem Orte führte, um ihn an anderer Stelle zur Aufschüttung eines Eisenbahndammes zu verwenden, während alle Handwerke und Gewerbe sich in Bewegung setzten, um Welsberg wieder zu dem zu machen, was es, schon der Herrlichkeit seiner Gebirge wegen, zu sein verdient, nämlich zum behaglichsten und schönsten Orte des oberen Pusterthales, waren auch diejenigen nicht lässig, welche den Feind auf seinem Rückzuge für immer unschädlich zu machen berufen waren. Ich möchte diese die Strategen, jene andern aber, welche den Ort aufrichteten und schützten, die Taktiker nennen.

Es handelte sich darum, dem Wildbach ein- für allemal die Möglichkeit zu nehmen, wieder mit gleicher Gewalt gegen das schöne Welsberg anzustürmen. Zu diesem Zwecke hat man auf dem oben erwähnten Berge Rudel nach dem Muster der Arbeiten in den französischen Alpen im Sammelgebiete des Wildbaches Abstaffelungen und Thalsperren angebracht. Um das Abrutschen des Bodens und das Herabgleiten des Gerölles aufzuhalten und das Gefälle des Wassers zu brechen, wurden hinter einander Mauerabsätze, Staffeln, Stränge von Flechtwerk angebracht, welche allen diesen Zwecken genügen werden.

Auf diese Weise also ist Welsberg versichert, und der Bach wird es bleiben lassen, die ihm entgegengestellten Hindernisse zu überwinden. Eine Denksäule, welche in Gegenwart des Kaisers enthüllt wurde, erinnert an all die Arbeit und den Opfermuth, wodurch die Häuser und Straßen aus der Verheerung wiedererstanden. Dort, wo man in jenen Tagen eine Cigarre vor der Feuchtigkeit, welche die Wohnräume erfüllte, um den Finger wickeln konnte, dort, wo die Leute sich das nasse Getreide mit Lauge anmachten, um einen Brei daraus zu bereiten, herrscht jetzt wieder das gastlichste Leben.



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