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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

No. 37.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Der Unfried.

Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)


Durch all die Stunden, während welcher der Bygotter in seiner eigenthümlichen Weise werkte und schaffte, weilte Sanni unablässig in seiner Nähe, ging ihm bei der Arbeit nach Kräften an die Hand oder saß unter einem Baume, die zerschlissenen Kleider des Vaters bessernd, und dabei zitterten fast immer heimliche Thränen auf ihren schmalen, blassen Wangen. Wenn sie sich erhob, wenn sie sich entfernen wollte, traf sie stets aus den Augen des Vaters ein finsterer Blick, so daß sie sich wortlos wieder niederließ auf die verlassene Stelle. Am Tage nach des Vaters Ankunft war sie von ihm ins Dorf geschickt worden, um beim Krämer einen Scheffel Kartoffeln, ein Säckchen mit Linsen und Bohnen und allerlei andere Dinge, beim Bäcker eine Metze Mehl und schwarzes Brot zu bestellen. Ihr Weg führte eigentlich nicht am Pointnerhof vorüber; als sie sich dennoch plötzlich vor dem großen, weißen Hause mit den grünen Läden sah, schüttelte sie das Köpfchen darüber, wie es nur möglich gewesen wäre, daß sie so weit vom Wege abkommen konnte. Dabei verzögerte sie die Schritte und musterte das schöne Haus, besonders aber den Hofraum und die blinkenden Fenster mit schüchternen Blicken. Das war doch seltsam, wie leer der Hof sich ansah! Als gäb’ es im Pointnerhause keine Mannsleute! Und da drinnen hausten doch ihrer fünfe, die vier andern – und Karli! Nun plötzlich gewahrte sie hinter einem der Fenster ein ihr völlig unbekanntes, lächelndes, bildsauberes Gesicht mit großen dunklen Augen. Sie wußte nicht, was sie dachte, sie fühlte nur, daß es ihr beim Anblick dieses schönen Gesichtes wie ein Stich durch das Herz ging; so eilte sie davon, und als sie den schmalen Fußpfad am Bache erreichte, fing sie zu laufen und laut zu weinen an.

Seitdem hatte sie das Dorf nicht wieder betreten. Die Woche war vergangen und der Samstag gekommen. Als sie da bei grauendem Morgen ihr kümmerliches Lager verließ und die Stube betreten wollte, hörte sie schon die dumpfe Stimme des Vaters, halb wie Gebet, halb wie Gesang. Sie öffnete die Thür und fuhr sich erschrocken mit den Händen an die Schläfe. Inmitten der Stube lag der Bygotter ausgestreckt mit dem Gesichte auf den Dielen.

„Vaterl – um lieben Herrgotts willen –“ stammelte Sanni unter Thränen. Schon wollte sie auf den Vater zueilen, als er sich murmelnd auf die Kniee emporrichtete und, die Arme ausbreitend, mit starren, glühenden Augen aufschaute zur Decke.

„Vaterl – Vaterl –“ stotterte Sanni leise; er schien sie nicht zu hören, und da verließ sie zögernd die Stube und setzte sich draußen im finsteren Flur weinend auf die morsche, leiterartige Treppe, die zum Bodenraume führte. Dort saß sie lange Stunden, und dabei hörte sie unablässig aus der Stube die dumpfe, murmelnde Stimme des Vaters.

Der trieb es so fort den ganzen Tag, rührte keine Hand zur Arbeit und verzehrte keinen Bissen. Erst gegen Abend

Theodor Storm.
Nach einer Photographie von Karl Andersen in Neumünster.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 597. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_597.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2023)