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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

in ihr Bett schlüpfte, vertauschte der kleine Veilchenstrauß seinen provisorischen Platz im Wasserglase mit dem dauernden in Lisbeth’s Skizzenbuch. Er sollte dort als Omen heimathberechtigt bleiben; ein Datum daneben zu verzeichnen schien nicht nöthig. –

Die neuen Eindrücke, welche Lisbeth in München empfing, halfen ihr über den Schmerz der Trennung von ihrer Mutter hinweg.

Lisbeth athmete das neue Leben in vollen Zügen. Ihr war, als sei sie eben erst auf die Welt gekommen, und wirklich ließ sich ihr gegenwärtiger Zustand dem eines Kindes vergleichen, das in den ersten Lebensjahren mehr in sich aufnimmt als jemals später: eine ganze Sprache, die Kenntniß aller Dinge um sich her, das Aufdämmern eigener Gedanken. Und einem Kinde gleich machte das junge Mädchen jetzt instinktiv alle Schritte und Bewegungen, welche ihre Phantasien in das Wirkliche übersetzten. Jeder, der um diese Zeit mit ihr in Berührung trat, hatte seine Freude daran, sie gleich einem Schmetterling dem Lichte zufliegen zu sehen – nicht dem Feuer, das die leichten Flügel verbrennt, sondern der Sonne, die den Farbenschmelz erhöht. Freudigste Wärme ging von der jungen Seele aus und wirkte belebend auf ihre Umgebung.

Bulgarin im Festkleide.
Nach dem Oelgemälde von Professor Anton Weber.

Zwischen den vier jungen Hausgenossen herrschte schönste Harmonie. Jedes von ihnen war in seiner Weise begabt und eigenartig genug, um den anderen stets interessant zu bleiben und allerlei Räthsel aufzugeben. Besonders die Abende dieses Hauslebens schienen Lisbeth aller Freuden voll. Im elterlichen Hause war, wenn die Lampe auf dem Tische stand, Schweigen die Losung. Die Brüder saßen bei ihren Schularbeiten, der Vater las, und auch später, bei Tische, kam selten eine gute Familienplauderei in Gang. Wie anders hier! Nach vollbrachtem Tagewerk gewann die Stunde, welche Alle wieder zusammenführte, gleichsam etwas Leuchtendes. Es gab zu berichten; Jedes hatte irgend etwas erlebt, das jugendliche Quartett überbot sich in guten Einfällen. War der Student zu Hause, was häufig geschah, da er, im letzten Semester seines Studiums der Philologie stehend, mit verdoppeltem Eifer arbeitete, so wurde er die Zielscheibe für den Witz der drei Mädchen, den er in bester Laune parirte, dabei aber oft durch eine geschickte Wendung die ganze Tafelrunde tieferem Fahrwasser zuführte. Seine Schwester Resi, „die Talentlose“, wie sie sich selbst zu bezeichnen liebte, besaß in hohem Maße das Talent guter Einfälle und den weiblichen Sinn, das Haus zu schmücken. Sie war ihrer Mutter rechte Hand. Der Sonnabend blieb ein- für allemal geselligem Verkehr gewidmet. Einige Freunde Richard’s fanden sich dann zur Theestunde ein, auch die Zahl der Mädchenköpfe vermehrte sich durch geladene oder Zufallsgäste. Es wurde musicirt, zuweilen etwas vorgelesen, improvisirte oder vorbereitete Charaden, naiv in Ausführung, geistreich in Erfindung, kamen zur Darstellung, und der Ehrgeiz, Neues zu ersinnen, förderte manchen originellen Einfall zu Tage. Um alles in der Welt hätte Lisbeth nicht eingestanden, daß jeder dieser Samstage leise Spannung in ihr weckte, daß sie, so oft sich die Thür aufthat, Jemand erwartete, der niemals erschien. Es fehlte nicht an schlanken Blondins, keiner glich aber nur entfernt dem Veilchenspender. Mehr als einmal war sie in Versuchung, Letzteren Richard Ahrens zu schildern und zu fragen, ob er seines Gleichen kenne. So oft das Wort auf die Lippe wollte, spürte Lisbeth aber schon im Voraus, daß sie roth werden würde wie eine Granatblüthe, und schwieg still, um nicht eine Fluth von Neckereien heraufzubeschwören. Sie selbst war zu harmlos, um sich darüber zu verwundern, daß die so flüchtig geschaute Erscheinung sich wiederholt die Freiheit nahm, in ihren Träumen umherzuspazieren, ganz unwillkürlich sah sie aber auf der Straße oder bei größeren Versammlungen nach dem Bilde aus, das ihr wie ein Titelbild des Münchener Lebensbuches vorkam. Es blieb unverrückt und mit unverwischbaren Zügen auf der ersten Seite stehen.

Der Winter brachte manchen Anlaß zu solcher vergeblichen Ausschau. Theater oder Koncerte zu besuchen, war Lisbeth selten vergönnt, da Luxusausgaben nicht in Betracht kommen konnten. Doktorin Ahrens lebte zurückgezogen, seit sie Wittwe geworden war, schlug aber im Interesse des jungen Völkchens niemals die Einladungen aus, welche zu den alljährlichen Künstlerfesten an sie gelangten. Die Pracht und Schönheit dieser Feste, der Reichthum an Farben und Formen, welche vergangene Zeiten wiederspiegelten, wirkten auf Lisbeth förmlich berauschend. Während sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 589. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_589.jpg&oldid=- (Version vom 21.9.2022)