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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

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Hängende Fäden.

Erzählung von A. Godin.

Die letzten Strahlen der feurig untergehenden Sonne spielten zwischen den Zweigen der Eschenreihe, welche einen der schönsten Plätze Münchens begrenzt, und erhellten ein nach dieser Seite gelegenes Zimmer der Pension Fischer noch hinreichend, um der am Sofatisch sitzenden Dame die Vollendung ihres Briefes möglich zu machen. Ihre Gedanken schienen den rasch über den Bogen laufenden Zeilen noch vorauszueilen; ein zufriedener Zug umspielte den feinen Mund.

Während sie so lautlos beschäftigt saß, verhielt sich ein am offenen Fenster stehendes junges Mädchen eben so schweigend. Jede Bewegung der schlanken, noch fast kindlichen Gestalt, jeder Zug des beredten Gesichtchens verrieth aber sprühendes Leben. Die leise Heiterkeit der Mutter erglühte in der Tochter zur hellen Freude, ihre rothen, vollen, in diesem Moment etwas getheilten Lippen schienen alle Luft des Lebens einathmen zu wollen; das aus der Stirn zurückgestrichene Haar äffte muthwillig die moderne Stirnzierde nach, indem krause, der Zucht entschlüpfte Löckchen sich im Windhauche regten. Selbst in der Haltung der erhobenen, von einer Strähne rothen Garnes umspannten Arme lag etwas Triumphirendes, und die kleinen Hände wickelten so energisch ab, als gälte es, wirkliche Fesseln eiligst zu lösen, während übermüthige nußbraune Augen darüber fort nach den Anlagen des Platzes schweiften. Da sprang unversehens der rothe Knäuel aus der Hand auf das Fensterbrett und von dort in raschem Satz hinab auf den zwischen Haus und Allee führenden Weg.

Das dunkle Köpfchen beugte sich lachend zum Fenster hinaus, begegnete zwei blauen, aufwärts gerichteten Augen und erblickte den Flüchtling zwischen den Fingern eines jungen Mannes, auf dessen blonder Mähne ein breitrandiger Filzhut saß, der eben leicht gelüftet wurde. Ein Zeichen des Stehengebliebenen deutete an, daß sein Fund zur Eigenthümerin zurückkehren solle. Er machte sich einen Moment mit dem Knäuel zu schaffen, kurz genug, um dem Bilde im Fensterrahmen, mit dem ihn der hängende Faden verband, kaum Zeit zur Besinnung zu lassen, bis der rothe Ball mit geschicktem Wurf emporflog und von eben so gewandter Hand flink aufgefangen wurde.

Beide jungen Menschen lachten einander einen Augenblick an; dann grüßte der Schlanke nochmals und ging seines Weges. Das Mädchen sah ihm fröhlich nach, bis sein wallendes Haar und der leichte Fuß zwischen den Bäumen verschwanden; dann fiel ihr Blick auf den Knäuel, und ein überraschter Laut entschlüpfte ihr, der die Mutter aufschauen und fragen ließ:

„Was ist, Lisbeth,“

„Ein Abenteuer!“ rief Lisbeth mit blitzenden Augen und frischer Schminke auf dem brünetten Gesicht. „Sieh nur – so kehren verlorene Habseligkeiten vom Münchener Pflaster zurück!“

Ein kleiner Strauß frischer Veilchen war zwischen die rothen Fäden geschoben. Indem sie ihn löste und an das zierlich geschwungene Näschen führte, sprach sie lebhaft weiter:

„Und ein Münchener Künstler war es, der mich’s erleben ließ, Mama! Ist das nicht ein glückliches Omen? Er sah aus wie Balder, der Gott des Lichtes – ich will ihn Dir zeigen!“ Sie zog den Bleistift aus einem auf dem Tische liegenden Notizbuche und entwarf mit kecken Strichen die Kontour der Jünglingsgestalt mit aufwärts gerichtetem Kopfe, eine lose gehaltene Mappe unter dem linken Arm, den rechten zum Wurfe gehoben. „Denke Dir leuchtende Blauaugen hinzu, Mama, und Du hast eine Vorstellung vom Helden meines Fensterabenteuers.“

„Tollkopf!“ schalt die Mutter, „zettelst Du, drei Schritte von mir, bereits Unsinn an, wie soll ich Dich allein lassen?“

Lisbeth fiel ihr um den Hals. „Ach, Mama, ich werde ja so vernünftig sein, als ob ich meine eigene Großmutter wäre; nur heute, heute nimm es damit nicht so genau! Ich bin zu glücklich; es ist mir wie ein Märchen, daß ich nun wirklich hier sein und bleiben, daß ich Künstlerin werden darf, wonach sich mir die Seele verzehrt hat, seit mir träumt, was Kunst bedeutet. Soll ich nun an diesem ersten Glückstage meine fünf Sinne am Schnürchen halten? Unmöglich, Mama! Sie tanzen in mir wie Mücken im Sonnenstrahl.“

Die Augen der Majorin wurden feucht; das nahe Scheiden kam ihr gerade in diesem Moment schmerzlich zum Bewußtsein, doch unterdrückte sie jede Aeußerung, welche die Freudigkeit ihres Kindes hätte trüben können.

„Es wird Zeit, zu Ahrens zu gehen,“ sagte sie und schob ihren Brief in das Kouvert. „Mache Dich fertig!“

„Sehr neugierig bin ich auf meine Kollegin,“ äußerte Lisbeth, indem sie ihr graues Hütchen feststeckte, „die Frau Doktor hat mir bei unserem gestrigen Besuche und auch heut, als sie hier bei uns war, sehr gut gefallen, und ihre Tochter scheint recht nett zu sein. Wenn der Student und die Kunstschülerin eben so angenehme Leutchen sind, wird sich’s dort gut hausen lassen!“

Ein kurzer Weg führte Mutter und Tochter in die Arcisstraße, wo die Freundin wohnte, unter deren Obhut Majorin Rüttiger ihr Kind zurücklassen wollte. Scharfe Herbstkühle war mit dem Scheiden der Sonne eingetreten, und die Dämmerung brach rasch heran. Als die bereits Erwarteten im Wohnzimmer der Doktorin freundlich empfangen wurden, war dasselbe schon erleuchtet und die Familie am runden Tisch in der Mitte des traulichen Gemaches versammelt: die Hausfrau, zwei hübsche Mädchen und ein junger Mann von einnehmender Erscheinung, den Frau Ahrens als ihren Sohn vorstellte, nachdem sie zuvor Martha Brohl, ihre Pensionärin, genannt hatte. Der jugendliche Gast, als baldige Hausgenossin Mittelpunkt des Interesses Aller, fand sich schnell zurecht und war im zutraulichsten Geplauder mit ihren Altersgenossen, als sich, nach dem Thee, die Mütter auf ein Ecksofa zurückzogen.

„Wie schwer muß es Dir fallen, Dich von diesem Kinde zu trennen,“ sagte Frau Ahrens mit hellem Blick auf Lisbeth, „solcher Frische und Natürlichkeit bei so viel geistiger Begabung begegnet man nicht oft bei unseren heutigen jungen Mädchen!“

„Ja! es fällt mir schwerer, als sich sagen läßt, und doch, liebe Marie, betrachte ich es als großes Glück, so weit zu sein. Jedes ausgesprochene Talent fordert sein Lebensrecht. Seit Lisbeth’s kurzem Aufenthalt bei unseren Berliner Verwandten, der sie zuerst mit wirklichen Kunstwerken bekannt machte, hat die heiße Sehnsucht sie nicht mehr verlassen, ihre eigene Anlage ausbilden zu dürfen. Du machst Dir keine Vorstellung von den Kämpfen, die es kostete, bis Rüttiger dazu seine Einwilligung gab. Er fand den Gedanken abenteuerlich und nicht standesgemäß, der Kostenpunkt war auch eine harte Klippe. Weißt Du, mein Mann hält es, wie viele Andere, im Grunde für selbstverständlich, daß Alles, was etwa vorhanden sei, in erster Linie dem männlichen Theil der Familie zukomme. Da er aber bei Alledem eine heimliche Schwäche für sein Töchterchen hat und ich ihr tapfer zur Seite stand, brachten wir ihn endlich dahin, ihr für ein Jahr das Kunststudium zu gestatten. Daß Du, liebe alte Freundin, so bereitwillig meiner Anfrage zustimmtest, erwies sich dabei als sehr wesentlich, denn nach Berlin, wo wir eine Menge Bekannte haben, hätte Rüttiger das Kind keinenfalls gehen lassen. Er verbindet merkwürdiger Weise mit der Vorstellung, seine Tochter wolle Künstlerin werden, die Idee, daß sich dies für Fräulein von Rüttiger nicht schicke.“

„Das giebt sich! Aber – ein Jahr, sagst Du? In diesem Punkte scheinst auch Du Dir falsche Vorstellungen zu machen. So begabt Lisbeth sein mag, hat sie mit dem Beginn anzufangen, und es bedarf langer Zeit, um etwas zu erreichen. Martha Brohl ist nun anderthalb Jahre hier und noch lange nicht über den Zeichensaal hinaus.“

Die Majorin lächelte fein: „Kommt Zeit, kommt Rath. Hier war nur der Anfang schwer, ihn weiter zu führen, ist mir nicht bange. Ich habe Dich als die alte treue Seele wiedergefunden, in Deiner Häuslichkeit weht gute, reine Luft, und so lasse ich Dir meine Lisbeth in der Zuversicht, daß Du sie liebgewinnen wirst und sie selbst sich hier wohl fühlt.“

Als Lisbeth am Schlusse dieses Abends ihre Mutter zur guten Nacht küßte, war sie durch alle erlebten Eindrücke so freudig erregt, daß Frau von Rüttiger den Gedanken an die letzte gemeinschaftliche Nacht nicht zu Worte kommen lassen mochte. Der Seufzer des Mutterherzens verklang ungehört. Ehe das Mädchen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 588. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_588.jpg&oldid=- (Version vom 26.6.2023)